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Ich höre was, das du nicht siehst

von Anja Rützel
Aus Wearables sollen bald Invisibles werden.Was passiert mit uns, wenn uns die Dinge unter die Haut gehen?

Aufgerüscht und behängt wie ein Pfingstochse, der mit Bändern geschmückt, mit Nelklein besteckt und Klimbim um jede verfügbare Extremität gebunden in einer festlichen Prozession durch die Straßen geführt wird, um von Gafflustigen bestaunt zu werden — so sähe man aus, würde man sich all die tragbaren Tech-Gadgets umschnallen, anklipsen, umhängen, anstecken, die für die verschiedenen Lebensbelange zu haben sind oder gerade entwickelt werden. Trüge man alle verfügbaren aktivitätstrackenden Fitnessbänder um den Arm, verliehe einem diese schmuckschwer angeschwollene Extremität das Aussehen eines tech-interessierten Wolfgang Petry.

Sie sehen nicht schön aus. Sind zu klobig, zu auffällig, bei aller technischen Smartness optisch unsmart.

Und man würde mit all den Accessoires nicht nur nachgerade bescheuert aussehen, viele Menschen würde diese visuell lärmige Zurschaustellung der eigenen Tech-Smartheit auch ausgesprochen unsympathisch finden. Das Porschloch der Neunzigerjahre wurde längst durch das Glasshole abgelöst: den allein durch seine optische Erscheinung schon nervigen Google-Brillenträger, der sich obendrein dauernd mit seinem smarten Nasenfahrrad unterhält. Für viele ist das noch der größte Makel der Wearable-Tech-Produkte: Sie sehen nicht schön aus. Sind zu klobig, zu auffällig, bei aller technischen Smartness optisch unsmart. Natürlich ist dieses aggressive Design sinnvoll aus Produzenten- und Marketingsicht: Solange Wearable Tech neben ihrer Funktionalität immer auch ein erzwungenes Modestatement ist, macht sie potenzielle Käufer von selbst auf sich aufmerksam. Ein wichtiges Strategieelement in einem noch jungen Markt. Anfangs, solange die flashy Produkte noch neu und begehrlich sind, mag das die Träger nicht stören, weist es sie doch als Frühkapierer und Vornewegmarschierer aus. Irgendwann aber nervt das egomane Kreischding am Handgelenk.

Es gibt sie schon, die schlichten Dinge. Zumindest vereinzelt. Das Fitbit One zum Beispiel, ein kleiner Tracker, der sich unauffällig an die Kleidung anklipsen lässt. Oder, der Traum jedes Monk-Charakters: schlaue Socken, deren unsichtbar eingewebter Chip ihren individuellen Schwarzton analysiert –und mit der passenden zweiten Socke zusammenführt. Es gibt einen BH, der sich je nach Stützbedarf von der flexibleren Alltagswäsche in einen straffen Sport-BH verwandeln kann. Allesamt diskret und ihrem Menschen so verbunden, wie es Produkte noch nie waren. Denn die Dinge kamen uns in den letzten Jahren in unerhörter Geschwindigkeit immer näher. Das Mobiltelefon zum Beispiel. Erst verwahrten wir es in Tasche oder Rucksack, als die Bindung daran immer enger wurde, in der Hosentasche oder, bei U-Bahn-Fahrten schön zu studieren: Wir halten es ohnehin in der Hand, ganz fest, wie eine Affenmutter ihr Baby umklammert. Noch näher könnten wir unsere Geräte nur noch an uns heranlassen, wenn wir sie wie ein Tattoo auf der Haut trügen. Eingeführt in den Gehörgang. Verschluckt oder implantiert. Bis 2017, prognostizierte das Beratungsunternehmen Gartner im vergangenen Dezember, werden 30 Prozent der Wearables zu Invisibles werden.

Brüllt die Frau, weil es ihr nicht gut geht — oder streitet sie via Ohrimplantat mit ihrem Schwiegervater?

Es wäre die ultimativ-diskrete, intimste Form, Technik im und in den Alltag zu tragen: unter der Haut. Noch sind implantierte Chips eine zeitgemäße Jahrmarktskuriosität: Cyborgs, die mit klitzekleinen Magneten in der Zeigefingerkuppe Stecknadeln schweben lassen. Noch können sie nicht mit der Leistungsfähigkeit eines Computers konkurrieren, doch immer komplexere Aufgaben übernehmen. „Die Zukunft gehört dem Sensor, den du nicht bemerkst“, schreibt Digital-Health-Philosoph John Nosta, „der in dein Leben eingebaut und kein bloßes Anhängsel mehr ist.“ All unsere technischen Hilfsmittel werden, glaubt Nosta, irgendwann komplett verschwinden. Weil sie — Pathos-Regler auf Maximum! — „in der Textur unseres Lebens aufgehen werden“.

Bis es so weit ist, helfen Pflaster. Ultradünne Geräte, die wir wie Tape auf unsere Körper kleben können — nicht ganz unsichtbar, doch zumindest für jene Menschen, die uns nicht nackt sehen. So wie das Pflaster, das an der University of Illinois zusammen mit der Northwestern University entwickelt wurde: Die Leitungen schlängeln sich so eng im dünnen Klebeträger, dass sich das Pflaster dehnen und drehen lässt wie die menschliche Haut, an der es haftet. Die eingebauten Sensoren des über Solarzellen gefütterten Patches helfen ALS-Patienten, indem sie zur Diagnostik die Muskelaktivität messen und aufzeichnen. Oder etwa der Kite Patch, ein Aufkleber, der den CO2-Radar von Moskitos stört und Menschen so vor Stichen und Krankheiten wie Malaria schützt. Moskitos finden ihre Beute über das Kohlendioxid, das Menschen beim Ausatmen produzieren.

Bei smarten Pflastern wird es nicht bleiben. Das Design-Unternehmen NewDealDesign arbeitet am digitalen Tattoo UnderSkin, das in den Daumenballen implantiert werden soll. Dort misst es dann — so die Idee — nicht nur Körperfunktionen wie Temperatur oder Blutzucker, sondern entriegelt auch die Pforte des Smart Homes, ermöglicht kreditkartenloses Bezahlen und Datenübertragung durch Händeschütteln. Entsprechend popkulturell sozialisiert, erinnert das fünfeckige Tattoo an etwas, das einem dreibeinige Herrscher ins Fleisch fräsen, um die Kontrolle über unser Leben zu erlangen.

Tatsächlich will UnderSkin mehr sein, als ein freundlicher Blutdruckberater. „Weil es in dir lebt, lernt es deine Geschichte“, sagt Jaeha Yoo, Designchef von NewDealDesign. Das Tattoo weiß, welche Menschen du triffst und wie du zu ihnen stehst — es soll erkennen können, ob man gerade der neuen Kollegin die Hand schüttelt, um ihr die Handynummer zu schicken, oder ob man bei romantischem Händchenhalten zugange ist — was das verständige Tattoo dann mit sanftem Glühen begleiten könnte. Technik, die ein freundliches High Five vom Ausholen zur Maulschelle unterscheiden kann. Und damit genau die Kontext-Cleverness aufwiese, die man bei vielen dumpfen Datensammel-Gadgets momentan noch vermisst.

Klingt praktisch. Und gruselig. Tatsächlich, sagt Jaeha Yoo, reagierten viele Menschen anfangs ablehnend. Inzwischen hätten andere Entwicklungen sachte den Weg zum Implantat geebnet. Hormonabgebende Stäbchen etwa, die Frauen sich zur Empfängnisverhütung in den Oberarm einsetzen lassen. Neben dem Sport- und Fitnessbereich ist der Gesundheitssektor das zweite große Gewöhnungsbecken: Wenn Datensammeln dabei helfen kann, fitter oder überhaupt gesund zu werden — was sollte daran schlecht sein?

Haben die Menschen in diesen Bereichen die neue Kulturpraxis erlernt, lässt sie sich leichter auf andere Lebensbereiche ausweiten. Wie lange aber wird es dauern, bis Menschen so radikal zu denken wagen wie Rich Lee? Er ließ sich Magnete in die Ohren implantieren, um ohne Kopfhörer Musik hören zu können — es genügt, dass er sich ein Kabel um den Hals legt. Klingt nach Partykunststück. Tatsächlich, sagt Lee, bereitet er sich mit seinen Ohrmagneten darauf vor, bald blind zu sein. Mit seinen Implantaten kann er auch Magnetfelder und Wifi-Signale spüren. Und lernen, sich mittels Echoortung fledermaushaft auch ohne Augenlicht zurechtzufinden.

Neue Sinne entwickeln, das klingt nach Superheldenromantik und erlebbaren Comicleserträumen. Nicht mehr mit dem Smartphone hantieren, weil Filme, Spiele, Musik direkt im Hirn passieren. Doch mit der Ausweitung unserer Kommunikationsmöglichkeiten geht auch etwas verloren. Wenn sich die Prognosen bewahrheiten und wir eine Statusumkehr erleben, die es nicht mehr erstrebenswert macht, seine Gadgets möglichst prominent zu präsentieren, sondern sie im Gegenteil möglichst unsichtbar zu machen. Denn mit den Dingen verschwänden dann auch die Botschaften, die über die Funktionalität unserer Produkte hinausgehen. Ein Mensch definiert sich für andere auch darüber, welche Ästhetik er mag, womit er sich gerne umgibt.

Gadgets sind in einigen kulturellen und gesellschaftlichen Schichten längst soziale Marker, symbolische Kommunikationstools. Das sentimental bewahrte schraddelige Nokia, die panzerfeste Handyschale, der Kopfhörer mit ciabattagroßen Hörmuscheln: alles Geschmackstatements. Der Soziologe Pierre Bourdieu sah in den Dingen eines Menschen ein Mittel zur Unterscheidung, das ihn in eine symbolische Ordnung einsortiert. Wenn die Dinge unsichtbar werden, machen sie Kommunikation im Wortsinn unbeschwerter. Und gleichzeitig komplizierter. Brüllt die Frau in der U-Bahn, weil es ihr nicht gut geht – oder streitet sie via Ohrimplantat mit ihrem Schwiegervater? Schneidet jemand Fratzen, weil er ein Rüpel ist – oder verpasst ihm sein Magenpflaster gerade einen Strafstromstoß, weil er sein Tageskalorienbudget überschritten hat?

Invisible Tech kann freier machen, uns von den Geräten lösen, die uns oft fester im Griff haben als wir sie. Und sie kann die ohnehin schon rätselhaften Menschen noch ein Stück rätselhafter erscheinen lassen. Wie beim haptischen Gerät kommt es auch bei den unsichtbaren Dingen schlicht darauf an, wie tief wir sie unter unsere Haut kommen lassen wollen.

Anja Rützel, Editor-at-large bei WIRED, wartet auf den twitternden Nagellack. Farbton: Battleship

 

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