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Massive Attack: „Die Idee, dass Techfirmen die Menschheit retten, ist total lächerlich“

von Bernd Skischally
Robert Del Naja ist kreativer Kopf und Bandleader hinter dem legendären, englischen Triphop-Kollektiv Massive Attack. In einem exklusiven Interview mit WIRED sprach der Künstler über AI, Apps, Apple – und darüber, warum seine Band so ewig braucht für jedes neue Album.

Dieses Interview erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im April 2016. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

Die Tech-Industrie und die Ideologie des Silicon Valley, künstliche Intelligenz und lernende Software, Mark Zuckerberg und Kanye West: Das sind die Themen, über die Robert Del Naja an diesem frühen Abend Ende Februar exklusiv mit WIRED spricht. Mit einem Musiker muss man ja auch nicht mehr groß über Musik reden. Die Zukunft der Menschheit ist irgendwie interessanter. Del Naja sitzt in seiner Künstlergarderobe im Berliner Tempodrom, er muss später noch arbeiten, auf der Bühne: Massive Attack, seine Band, tourt zum ersten Mal seit 2010 wieder. Ursprünglich war das Musikerkollektiv aus Bristol mal ein Trio, dann ein Duo, zwischenzeitlich war Del Naja sogar allein mit einigen Gastmusikern. Derzeit ist Daddy G., der zweite Mitgründer, wieder dabei. Doch Del Naja ist seit eh und je der Kopf von Massive Attack und zudem verantwortlich für die visuelle Seite der Band: Der eins­tige Sprayer gestaltet die Plattencover und konzipiert die Videos und Live-Auftritte.

Ein Vierteljahrhundert ist es nun her seit der Veröf­fentlichung des legendären Debütalbums von Massive Attack, Blue Lines. Ein paar Welthits kamen seit 1991 zusammen, „Unfinished Sympathy“, „Karmacoma“ und „Teardrop“ etwa, aber insgesamt bloß fünf Alben. Das sechste soll in diesem Herbst herauskommen (doch da legt sich Del Naja lieber nicht fest). Zunächst gibt es immerhin ein paar neue Songs auf zwei EPs; die erste, „Ritual Spirit“, erschien Ende Januar. Zum gleichen Zeitpunkt haben Massive Attack eine eigene iOS-App herausgebracht, Fantom. Die verspricht ein „sensorisches Musikerlebnis“: Die vier Tracks von Ritual Spirit werden darauf in Echtzeit personalisiert geremixt, unter anderem die Bewegungen des iPhone-Users und sein von der Apple Watch abgenommener Puls werden zur Modulation benutzt. Del Naja beschäftigt sich heute min­destens so sehr mit neuen Technologien wie damit, neue Songs aufzunehmen. Und die Auftritte von Massive Attack sind eher musikalische Präsentationen der Weltlage als klassische Popkonzerte: Auf riesige LED-Wände werden aktuelle Schlagzeilen projiziert, die Funkkommunikation von Drohnenpiloten, Google-Abfragen, Asylbewerberzahlen. Was ist also los mit unserer Zeit, so wie Massive Attack sie betrachten?

WIRED: Mister Del Naja, bei der aktuellen Live-Show von Massive Attack stellen Sie die großen Gegenwartsfragen, von der europäischen Flücht­lingspolitik bis zum Verhältnis des Menschen zur Technologie. Während andere Acts bei Konzerten versprechen, dass die böse Welt draußen bleibt, holen Sie sie herein. Wieso?
Robert Del Naja: Unsere Show hat sich seit Längerem dahin entwickelt. Das ging bereits im Jahr 2003 los, da fand ich unsere Auftrittsweise nicht mehr aufregend. Schon damals war das Internet so omnipräsent, dass es sich lächerlich anfühlte, als Musiker noch um die Welt zu touren und auf der Bühne so zu tun, als sei das Netz noch nicht erfunden worden. Das Informationszeitalter, wie wir es heute kennen, hatte begonnen – und wir als Massive Attack waren nicht Teil davon. Ich fand, dass man als Musikgruppe nun auch regelrecht redaktionell arbeiten musste, fast im journalistischen Sinne: Wir mussten uns mit den Themen der Gegenwart irgendwie auseinandersetzen, auf zeitgemäße Weise. Und so wurde aus unserer Bühnenshow eine Art reisende Kunstinstallation.

WIRED: Die bis heute immer wieder upgedatet wird?
Del Naja: Die Vorbereitung auf eine Tour beginnt heute für mich tatsächlich damit, das visuelle Konzept festzulegen: Welche Inhalte wollen wir erzählen, welche Technologien können wir dafür verwenden, und welche davon können wir uns überhaupt finanziell leisten? Die letzte Frage ist übrigens oft die wichtigste.

WIRED: Als Zuschauer wird man unter anderem mit aktuellen Schlagzeilen bombardiert, in der Landessprache des Auftrittsortes. Wer sucht die Headlines wie aus?
Del Naja: Als wir damit anfingen, wollte ich die Schlagzeilen jeden Tag selbst aussuchen. Mittlerweile habe ich die Kontrolle da völlig abgegeben. Wir benutzen nun eine Software, die die Auswahl der Headlines bereits teilweise selbstständig übernimmt. Doch es gibt noch einen Operator, der das letztlich steuert und die Inhalte editiert. Langfristig möchte ich daraus eine Art Artificial-Intelligence-Prozess machen, die Maschine soll irgendwann die Inhalte komplett bestimmen. Das würde ja eine grundsätzliche Tendenz unserer Gegenwart spiegeln: Die Technologie kontrolliert uns heute ebenso, wie wir die Technologie kontrollieren. Deshalb soll unsere Bühnenshow eine eigene Persönlichkeit entwickeln. Sie soll ihre Ideen beisteuern.

WIRED: Wie weit ist Ihre Maschine mit dem Denken schon?
Del Naja: Die Software funktioniert bei englischsprachigen Headlines schon ganz gut. Mit anderen Sprachen hingegen tut sie sich noch etwas schwer, da ist sie häufig ein bisschen lost in translation. Die politischen findet die Software ziemlich verlässlich in der Gesamtmenge der Headlines, wir füttern dann häufig noch ein paar Celebrity-News dazu. Den Kanye-und-Rihanna-Teil müssen wir oft noch händisch hinzufügen. Die Software kann den Grad an Absurdität einer Nachricht noch nicht so richtig einschätzen. (lacht)

WIRED: Ist diese Themenmischung als Medienkritik zu verstehen?
Del Naja: Unsere Auswahl entspricht in gewissem Maße der, die auch Boulevardmedien heute vornehmen, egal, ob das nun gedruckte Zeitungen sind oder Onlineportale. Das Interessante daran sind für mich die krassen inhaltlichen Gegensätze zwischen den Schlagzeilen. Und der verstörende Effekt, den diese Kontraste beim Betrachter auslösen.

WIRED: In der Dramaturgie Ihrer Show gibt es kurz vor Ende scheinbar ein Happy End, da tauchen plötzlich positiv besetzte Signalwörter auf den LED-Leinwänden auf: „share, trust, open, join, connect, equal …“
Del Naja: Euch ist schon klar, dass die ironisch gemeint sind? (lacht)

WIRED: Das wäre die Frage gewesen …
Del Naja: Wir geben während der Show die Quelle nicht an, aber tatsächlich zitieren wir da aus dem Brief, den Mark Zuckerberg an seine neugeborene Tochter Ende vergangenen Jahres geschrieben und auf Facebook veröffentlicht hat. Darin verspricht er, dass die großen Probleme der Menschheit bald gelöst werden. Natürlich haben die Begriffe, die er verwendet, eine positive Konnotation, sie haben sogar etwas Utopisches, Idealistisches. Aber mal ehrlich: Die Idee, dass die Tech-Companies uns retten werden, ist fucking ridiculous.

WIRED: Warum?
Del Naja: Weil die Probleme der Menschheit dafür zu komplex sind. Und weil gewählte Regierungen für deren Lösungen zuständig sind. Tech-Firmen könnten doch die Finanzmärkte nicht regulieren. Welche Lösungen hätten sie denn anzubieten? Statt einer Reform des öffentlichen Gesundheitswesens etwa wollen sie uns ihre privatwirtschaftliche Version davon verkaufen. Behörden sind zu Transparenz und verantwortlichem Handeln per Gesetz gezwungen, Privatfirmen nicht. Sollten Unternehmen zum Beispiel das Bildungswesen übernehmen? Auf keinen Fall!

WIRED: Die Versprechen der Tech-In­dustrie sind illusorisch?
Del Naja: Sie stellt uns eine perfekte Zukunft in Aussicht, wenn wir nur alle das Gleiche tun: share, join, connect. Aber erst müssen wir den Nutzungsbedingungen zustimmen. Und das soll die Zukunft sein? Really?

WIRED: Es klingt doch alles so schön.
Del Naja: Wenn man wirklich an die Ideen und Werte der Tech-Industrie glaubt und wenn man sich dann entsprechend verhält und immerzu mitmacht und Ja sagt – führt das denn wirklich zu einer besseren Welt? Haben soziale Medien einen positiven oder negativen Effekt auf unsere Gegenwart? Die Antworten auf diese Fragen stehen noch aus.

WIRED: Sie wollen nicht so viel Ja sagen, wie die Tech-Welt es von uns fordert?
Del Naja: Wir benutzen gar nicht alle Zuckerberg-Zitate in unserer Show, und wollt ihr wissen, warum? Die waren in der Summe unglaubwürdig – sie waren viel zu positiv! Stattdessen laufen über die Leinwände bei uns irgendwann nur noch die Schlagworte als Loop, um den Auf­forderungs­charakter deutlich zu machen, der dahinter steht: join, share, like, connect, join, share, like, connect … In der Wiederholung offenbart sich das gehirnwaschende Potenzial.

Es ist situationsabhängig, wie super ich disruption finde.

Robert Del Naja



WIRED: Zeigen sich da nicht die ideologischen Berührungspunkte zwischen dem, was man so die kalifornische Philosophie der Tech-Firmen nennen könnte, und der Denke klassischer linker Bewegungen? Der Aufruf, sich zusammenzuschließen, ist eine alte Arbeiterkampfparole. Sie selbst wurden als Jugendlicher in den 80er-Jahren geprägt von der damaligen britischen Sprayerszene, die wie viele Subkulturen zuvor auch das „System“ herausfordern wollte. Wie weit ist es von dort bis zur Tech-Ideologie der „disruption“, mit der Altes durch etwas Neues ersetzt werden soll?
Del Naja: Ihr habt mit alldem recht. Und nun wollt ihr wissen, was ich daran gut oder schlecht finde?

WIRED: Zum Beispiel.
Del Naja: Ich finde disruption im Prinzip super. Bloß hat die Störung des Betriebs, die damit gemeint ist, heute mitunter verwirrende Folgen. Ein Beispiel: der Kampf zwischen dem FBI und Apple, ob der Konzern im Zuge der Ermittlungen zum Terroranschlag in San Bernardino das iPhone eines der Attentäter knacken muss. Der Schutz unser aller Daten steht auf dem Spiel. Ich bin also in diesem Fall auf der Seite von Apple. Trotzdem lehne ich die Zukunftsvorstellungen des Si­licon Valley ab. Ihr seht: Es ist situationsabhängig, wie super ich disruption finde.

WIRED: Ist die Gegenwart nicht auf ganz andere Weise bereits gestört und kaputt, als Silicon Valley sich das vorstellt?
Del Naja: Richtig, und in unserer Show versuchen wir ja, die großen Themen der Zeit zu verhandeln. Die haben vor allem mit Konflikten um Grenzen, Nationalität und Religion zu tun. Warum verlassen Menschen ihre Heimat, wohin migrieren sie, warum tun sie es, wie können wir alle friedlich koexistieren? Auf all das habe ich keine Antworten, aber womöglich haben ja intellektuellere Denker als ich welche. Ich würde gern hoffnungsfroh in die Zukunft schauen. Doch wenn ich nachts wach liege und an die Decke starre, fällt mir nichts ein, was mich gerade zuversichtlich stimmen würde.

Steuern zu zahlen wäre für mich die erste humanitäre Geste der Tech-Unternehmen.

Robert Del Naja

WIRED: Könnte es sein, dass die Tech-Industrie einfach die falschen Probleme löst?
Del Naja: Zunächst mal muss man eines bedenken: Die amerikanische Gesellschaft und damit eben auch die dortige Tech-Industrie hegen ein prinzipielles Miss­trauen gegenüber staatlichen Institutionen. Dass Tech-Firmen glauben, für alle Probleme die bessere Lösung zu haben als die Politik, kommt ja nicht von ungefähr. Zugleich zahlen viele dieser Firmen offenbar ungern Steuern. Doch wir leben heute in einer Konsumgesellschaft, und wenn Unternehmen, die uns all diese tollen, smarten Produkte verkaufen, ihre Steuersitze in Offshore-Paradiese verlegen, ist das einfach scheiße. So wird die Handlungsfähigkeit des Staates weiter reduziert, denn wenn der kein Geld hat, kann er auch nicht gestalten. Steuern zu zahlen, wäre für mich so was wie eine erste humanitäre Geste der Tech-Unternehmen.

WIRED: Und doch arbeiten Sie mit denen zusammen, etwa bei „Fantom“, der iOS-App von Massive Attack. Die benutzt User-Daten, bis hin zum Herzschlag, den die Apple Watch misst – mit jeder Bewegung, jeder Aktion des Users ändert sich der Track, der gerade läuft.
Del Naja: Die App schließt an den AI-Aspekt der Live-Show an, auch Fantom benutzt automatisierte Prozesse und rudimentär schon künstliche Intelligenz. Fantom ist zugleich als disruption und ironisch gemeint.

WIRED: Sie versprechen den Nutzern, dass die Daten nur lokal verwendet und nicht gespeichert werden. Haben Sie also nicht auch ein sehr persönliches Interesse daran, dass das FBI nicht ins iPhone reinkommt?
Del Naja: ;Klar ist es etwas scheinheilig von uns, diese App zu machen. Wir sind politisch gegen das Sammeln von Daten – und tun es selbst mit der App, in der wir Nutzer genau darum bitten. Bes­tenfalls zeigt Fantom jedoch, dass man Daten auch zu anderem verwenden kann als zur Überwachung – oder um sie monetarisierbar zu machen.

WIRED: Waren Sie überrascht, wie wenig die Datenbenutzung Ihrer App auf Kritik gestoßen ist?
Del Naja: Ich habe mit mehr Kritik gerechnet, ja. Stattdessen beschweren sich Leute eher darüber, dass es die App nicht für Android gibt. Das ist so, weil wir es uns einfach nicht leisten konnten, eine App auf beiden Systemen zu starten. Wir sind keine Firma, wir sind bloß ein paar Leute, die Spaß haben wollen. Fantom ist kostenlos, wir verdienen damit nichts, im Gegenteil.

WIRED: Auf der App sind die vier Tracks Ihrer EP „Ritual Spirit“. Kommen da noch mehr hinzu?
Del Naja: Wir wollen die App auf jeden Fall weiterentwickeln, technisch wie inhaltlich. Mit unserer Musik, aber auch der von anderen.

WIRED: Das zeigt: Sie müssten gar nicht mehr den alten Zyklen der Musikindustrie folgen, Sie könnten auch bloß noch Apps bauen und mit Songs befüllen. Fühlt sich das befreiend an?
Del Naja: Ich bin da zwiegespalten. Ein Teil von mir möchte in den alten Mustern weiterarbeiten – ein Album aufnehmen, ein Video drehen, auf Tour gehen. Ein anderer Teil von mir hingegen
genießt die Freiheit.

WIRED: Die genießen Sie doch schon lange: Warum brauchen Sie eigentlich für jedes neue Album fünf oder mehr Jahre?
Del Naja: Ich habe das Studio schon immer als Labor begriffen, ich habe einen sehr analytischen Zugang zum Musikmachen: Ich konstruiere und dekonstruiere Sounds und Tracks. Das braucht Zeit.

WIRED: Fiebern Sie dem Moment noch entgegen, wenn eine Ihrer Platten veröffentlicht wird?
Del Naja: Es dauert heute keine fünf Minuten mehr, bis so ein Album ins Netz hochgeladen ist. Das ist nichts, auf das man als Beteilig­ter noch hinfiebern würde.

WIRED: Außer man ist Superstar, schmeißt ein Album unangekündigt auf den Markt und wartet auf den Buzz im Netz.
Del Naja: Das ist bisher eine amerikanische Besonderheit. Man hat ja inzwischen den Eindruck, dort hocken Kanye West, Taylor Swift und Jay Z im selben Raum mit denselben PR-Leuten und planen den nächsten Coup: „Wenn du das tweetest, tweete ich das, und wenn du dein Album raushaust, haue ich meines danach raus …“ Es scheint nur noch darum zu gehen, durch sozialmediale Dauerpräsenz das Feuer am Lodern zu halten. Offenbar ist es nicht mehr vorgesehen, sich als Künstler zwischendurch zurückzuziehen und die Leute mal in Ruhe zu lassen. Keine Ahnung, ob das der Masterplan für die Zukunft der Musikindustrie ist. Sollte es überhaupt einen geben, hat ihn zumindest mir noch niemand verraten. 

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