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„Liebes Google, kannst du nicht einfach die Wahlen für uns erledigen?“

von Max Biederbeck
Am Dienstag spricht der Autor und Ex-Amazon-Chefwissenschaftler Andreas Weigend auf der re:publica in Berlin über die geheime Macht der Daten. Sein Credo: „Alle Informationen, die erhoben werden können, werden auch erhoben.“ WIRED wollte sich schon vorher mit ihm über seinen Vortrag und sein Buch Data For The People unterhalten. Herauskam ein etwas anderes Interview.

Man kann sich heute ja nie sicher sein – etwa ob man bei einem Skype-Gespräch wirklich noch mit einem echten Menschen spricht. Andreas Weigend führt einen deshalb erstmal mit der Kamera durch seine Wohnung im Silicon Valley. Dann grinst er einmal breit in die Linse, zwickt sich noch mal zur Kontrolle ins linke Ohr – dann beendet er die Video-Übertragung wieder. „Sie haben jetzt gesehen, ich bin ein echter Mensch und gut angezogen“, scherzt er und beginnt ein Gespräch über die gar nicht mehr so geheime Macht von Big Data.


Weigend war Chefwissenschaftler bei Amazon und und arbeitet heute als Autor und Direktor des Social Data Lab an der Standford University. Gerade hat er das Buch Data For The People veröffentlicht. Am Dienstag spricht er als Keynote-Speaker auf der re:publica 2017 in Berlin über die geheime Macht der Informationen im Netz (15:00 Uhr). WIRED hat schon vorher mit ihm gesprochen. Heraus kam ein etwas anderes Experten-Interview.

Andreas Weigend: Ich weiß, sie wollen schnell ganz viele Fragen stellen, aber darf ich ausnahmsweise anfangen?
WIRED: Unorthodox, aber nur zu…
Andreas Weigend: Sie wissen vermutlich schon von dem Espresso, den ich mir gerade gemacht habe, oder?
WIRED: Halten Sie mich für einen fiesen Hacker, der Sie über das Internet of Things ausspäht?
Weigend: Das hätten Sie gerne. Nein, da muss man gar nicht so weit gehen wie es WIRED-Reporter immer wieder beschreiben. Ich habe keine Angst vor gehackten Internet Connected Vibrators. Meine Kaffeemaschine ist nicht am Internet, das möchte ich mal ganz klar sagen.
WIRED: Na gut, aber wie soll ich dann von Ihrem Espresso wissen?
Weigend: Die Kaffeemaschine ist elektrisch betrieben. Ich koche meine Getränke nicht über dem Feuer. Und in meinem Keller steht ein Smart Meter. Sie könnten also über das Meter wissen, wieviel Kaffee ich trinke. Die ein oder andere Krankenkasse wäre bestimmt interessiert daran, wie oft ich auf den Knopf zum Espresso drücke.


WIRED: Diese Zukunft fürchtet ja so ziemlich jeder Datenschützer.
Weigend: Sie kommt bestimmt, aber man kann sich zum Glück schützen. Vielleicht bringt ein Tesla-Sportwagen Abhilfe.
WIRED: Ein Sportwagen?
Weigend: Er ist unabhängig vom Netz. Und mit dem Tesla kann ich dann meine Kaffeemaschine betreiben.
WIRED: Folglich kann die Versicherung nicht mehr sehen, wann Sie auf den Knopf drücken?
Weigend: Genau, ein ziemlich teurer Kaffee allerdings, wenn man darüber nachdenkt. Und selbst wenn ich mir das leisten würde: Die Kaffeemaschine läuft nicht lautlos, ich besitze so eine Illy, einen Italiener. Die brummt schon ganz schön. So stark, dass meine Fensterscheiben vibrieren. Leute könnten da einen Laser draufwerfen und schauen, wie sein Strahl reflektiert wird. Die würden dann auch wissen, dass ich mir einen doppelten Espresso gemacht habe. Und sie würden auch jedes Wort hören, das ich sage.

WIRED: Jetzt klingen Sie aber ein wenig paranoid.
Weigend: Im Gegenteil! Ihnen scheint nicht klar zu sein, was so geht heutzutage. Natürlich war es schon vor tausend Jahren möglich, jemanden zu verfolgen. Da konnte man einen Kumpel abbestellen und sagen: „Schorsch, jetzt gehst du dem mal hinterher. Und dann sagst du mir genau eine Uhrzeit, wo der dann genau was macht.“
WIRED: Schon klar, dass das heute ein Computerprogramm übernimmt.
Weigend: Und die Leute dahinter. Da gibt es heute etwa diese Firma, Vigilant Solutions, die Nummernschilder am Auto anguckt. Die können dann nur aufgrund des Bewegungsmusters eines zugehörigen Fahrzeugs sagen: „Ja, ich weiß, mein Lieber. Ich weiß, du hast deiner Frau gesagt, dass du erst um sieben aus dem Hotel kommst. Aber wir haben tatsächlich festgestellt das du um fünf das Auto schon mal umgeparkt hast. Vielleicht war da auch noch etwas anderes.

WIRED: Sie glauben also, solch eine umfassende Datenüberwachung ist schon längst Realität.
Weigend: Geolocation ist eine extrem persönliche Variable. Wenn ich weiß, wo jeder pro Minute und pro Meter ist, mit einer hohen Auflösung, dann kann ich unglaublich viel damit machen: Meine Gesundheit über den Espresso-Konsum überwachen, das ist nur der Anfang.
WIRED: Zum Orwellschen Überwachungs-Szenario gehören nicht nur Firmen sondern auch Regierungen.
Weigend: Die müssen natürlich planen. Zum Beispiel die rote Welle oder grüne Welle – bei mir ist gefühlt meistens rote Welle.
WIRED: Ich habe das Gefühl, die wollen Sie fertig machen.
Weigend: Spaß beiseite, Daten sind auch für die langfristige Planung wichtig. Ich habe zum Beispiel vergangene Woche den Innovations-Chef des Los Angeles International Airport getroffen. Die wollen dort wissen, wie ihre Benutzerströme aussehen. Erst sammeln sie deshalb Daten, dann treffen sie Entscheidungen. Wo die Toiletten und Geschäfte hinkommen, welche Geschäfte es überhaupt geben soll, bis hin zu den Aufrufen am Gate. Solche Anbieter haben da noch einiges zu tun.
WIRED: Was denn?
Weigend: Ich saß neulich am falschen Gate. Warum schickt mir die United Airline keine Message, bei der mein Handy anfängt, wild zu klingeln und sagt: „Herr Weigend, Sie sind am falschen Gate. Bitte aufstehen und zum Gate 68 kommen“?


Wir müssen heute davon auszugehen, dass viele Menschen alles über uns wissen

Andreas Weigend

WIRED: Also wünschen Sie sich ja auch die Hilfe der Daten. Anfangs klang es so, als fürchteten sie nur deren Macht über Ihre Espresso-Maschine.
Weigend: Klar, was wir aus meinen Beispielen auch lernen sollten: Es gibt beliebig viele Methoden, um etwa die Geolocation von jemandem zu beschreiben. Und sogar Unternehmen wie ein Flughafen oder eine Airline beginnen gerade damit, das zu nutzen.
WIRED: Welche Mittel stehen da zur Verfügung?
Weigend: Face Recognition, oder einen elektronischen Koffer, wie ihn die Lufthansa jetzt anbietet. Dann haben Sie wahrscheinlich ein Handy mit Bluetooth dabei, darüber funktionieren all die Bluetooth Receiver, so genannte Beacons, die es in Flughäfen gibt. Oder Sie reisen mit jemandem zusammen, der ein Telefon dabei hat. Der Flughafen weiß, dass Sie zum gleichen Moment durch die Security gegangen sind, dass Sie nebeneinander sitzen und so weiter.

WIRED: Schon gruselig, wenn man darüber nachdenkt
Weigend: Und jetzt kommt die Punchline: Wir haben keine Chance, all diese Datensammler abzustellen. Selbst, wenn sie ihre Informationen vor einem einzelnen Sammler schützen können, zahlreiche andere nehmen seinen Platz ein. Nein, wir müssen heute davon auszugehen, dass viele Menschen alles über uns wissen.
WIRED: Jetzt klingen Sie wieder paranoid.
Weigend: Schauen Sie sich den Fortschritt an. Heute ist die Qualität bei Ihrem Skype nicht so gut, aber das ist nur eine Frage von Monaten. Bald sind Hardwaresensoren so fortgeschritten, dass ich genau weiß, in welchem Zimmer Sie sich befinden. Falls ich das Telefonat aus dem Auto führen würde, wüssten Sie genau was ich für ein Auto fahre. Nur aufgrund der Eigenfrequenz. Sie wüssten auch, wo ich lang fahre aufgrund des GPS, aber auch wie die Straßenverhältnisse aussehen. Das läuft dann alles schön zentral auf dem Handy zusammen und Unternehmen wie Google können es auswerten.

WIRED: Die berühmten Datenkraken.
Weigend: Das hat für uns Vorteile. Das zeigt eine Geschichte, die ich im Buch in einer Fußnote zusammengeschrumpft habe. Da war ich in Shanghai und Google verkündete mir ganz aufgeregt, dass ich in den nächsten fünf Minuten aufbrechen muss, wenn ich meinen Flug noch erwischen will. Und ich hatte noch nicht gar nicht gepackt, Shanghai ist eine große Stadt. Das kam völlig überraschend.
WIRED: Google lag falsch?
Weigend: Google lag als einziger richtig. Ich rufe also bei United an: „Ihr Flug ist storniert worden. Da gab es einen Maschinenschaden”, sagt der Mitarbeiter. Dann stellt sich heraus, dass der arme Mann noch im Gestern gelebt hat. Die Zeitzone in Shanghai ist einen Tag weiter. Er hatte das einfach falsch interpretiert. Lange Rede, kurzer Sinn: Google hat da auch den Überblick. Ich war erstaunt, wie viele Sachen Google da cool kombiniert hat und mit wie vielen Quellen. Alles, um mir den richtigen Hint zu geben: Wenn du jetzt aus deinem Haus gehst, dann bekommst du tatsächlich auf den Ersatzflieger vom Tag davor.

WIRED: Das könnte auch gegen Sie eingesetzt werden.
Weigend: Ich habe mal ganz bewusst mit Google Latitude meine gesamte Geolocation in Echtzeit auf meine Website gepackt. Und dann hatte ich ein Treffen und rufe meinen Bekannten aus dem Auto kurz an du sage ‚Du, ich bin in fünf Minuten da“. Und er sagt, ‚Nee, ich weiß du bist in fünf Minuten nicht da‘“.
WIRED: Wie immer: keinen Parkplatz gefunden.
Weigend: Eben nicht! Solche herrlichen Lügen funktionieren nicht mehr, wenn Sie im Auto eine Kamera haben, die Ihnen den perfekten Parkplatz für Ihr Fahrzeug findet und Ihr Bekannter auch noch die Fahrroute verfolgen kann.
WIRED: Aber da sind Sie doch selbst Schuld, wenn Sie das teilen.
Weigend: Das war ein Experiment. Aber bei der Produktion von Daten kann ich mir nicht viel an möglicher Kontrolle vorstellen. Damit mein Telefon funktioniert, muss ich der Telekom sagen, wo ich bin. Damit ich meine Pizza von Amazon zugeschickt bekomme, muss ich sagen, wo ich bin. Sonst wirft der Lieferant die Pizza beim Nachbar ab und ich habe überhaupt nichts davon. In vielen Fällen, wie zum Beispiel bei der Geolocation des Telefons, habe ich keine Chance. Auch wenn ich GPS abstelle, muss die Telekom trotzdem irgendwie wissen, wo ich bin.


WIRED: Was also tun?
Weigend: Ich muss ganz klar in Charge sein, wenn ich von einem Anbieter wissen will, wo mein Telefon ist. Da darf es kein Zögern geben. Die müssen sagen: „Jawoll, Herr Weigert, das wissen wir durch ihre Geolocation genau.“ Es ist nicht akzeptabel, wenn die mir so etwas zum Beispiel erst gegen einen Geldbetrag verraten.
WIRED: Aber wird wirklich viel solcherlei Schindluder mit unseren Daten betrieben? Im Detail weiß man noch immer wenig.
Weigend: Richtig, man weiß es nicht. Aber die Leute sollten lieber davon ausgehen, dass alles, was man sammeln kann, auch gesammelt wird. Das ist die einzige genaue Annahme im 21. Jahrhundert. Die Frage sollte nicht lauten: Welche Daten sammeln diese Unternehmen, sondern: Welche Aktionen basieren sie darauf?


WIRED: Welche denn?
Weigend: Damit kommen wir zur zweiten Annahme: Die Unternehmen lassen intern Programme und AI drüber laufen, um herauszufinden und zu optimieren, was auch immer sie herausfinden und optimieren wollen. Die haben alle gute Data Mining Gruppen, ihre Ziele können ganz verschieden sein. Und jetzt wird es problematisch: Vielleicht fangen sie mit Anrufen an: „Ja mein lieber Herr Soundso, wir hätten ja einen ganz wunderbaren neuen Plan für Sie. Alles viel günstiger. Denken Sie daran, was sie alles für Vorteile haben können!“ Das darf so nicht passieren. Es ist wichtig, dass wir da nicht den falschen Baum anbellen.
WIRED: Viele hatten Angst, dass genau so ein Missbrauch bei den US-Wahlen mit einer Firma namens Cambridge Analytica passiert ist.
Weigend: Für die Trump Election und den deutschen Wahlkampf war das ein Marketing-Gag. Da steckte ja wirklich nichts dahinter. Aber wie sieht es in vier Jahren aus? So weit von der Realität sind diese Theorien nicht. Dass man meine Persönlichkeit und meine wunden Punkte herausfinden kann, nur aufgrund dessen, was ich wie, wann und wo sage. Das ist bald realistisch.

WIRED: Jetzt haben Sie mich auch paranoid genug gemacht, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Ich brauche dringend einen Espresso.
Weigend: Dann gebe ich Ihnen noch einen Gedanken mit auf den Weg!
WIRED: Sie hatten das erste Wort dieser Unterhaltung – Sie haben auch das letzte.
Weigend: Statt ein Kreuzchen zu machen mit aller Komplexität, die das mit sich bringt, sollten wir doch vielleicht einfach Google bestimmen lassen, wen wir wählen sollen oder von mir aus auch Facebook.
WIRED: Ernsthaft? Nach allem?
Weigend: Google weiß doch besser als ich selbst, was ich wirklich will, und woran ich wirklich interessiert bin. Und Facebook weiß doch besser als ich selbst, an wem ich wirklich interessiert bin und wo ich zurückschreibe und wo nicht. Wo ich ein Lächeln schicke, oder ein Like? Also warum machen wir überhaupt noch Wahlen, wenn wir die Firmen, die uns eigentlich besser kennen, auch entscheiden lassen können? Können wir nicht einfach sagen: „Liebes Google, liebes Facebook, könnt ihr einfach diese Wahlen für uns erledigen?“

WIRED ist Medienpartner der re:publica 2017 und berichtet hier vom 8. bis 10. Mai live von der Konferenz in Berlin.


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