Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Cyborg-Forscherin Amber Case fordert eine ruhigere Technik

von Juliane Görsch
Jedes Gerät scheint heute eine smarte Alternative zu haben. Es gibt vernetzte Kühlschränke, Tretroller, Lampen und Uhren. Amber Case erforscht, was das mit uns macht. Im Interview mit WIRED fordert sie IoT-Geräte, die uns weniger zu Systemadministratoren machen.

Wenn es nach Amber Case ginge, würde Technik nur noch am Rande unserer Wahrnehmung stattfinden. Als Cyborg-Anthropologin ist sie der Meinung, dass alle Menschen durch ihre Smartphones schon längst mit der Technologie verschmolzen sind. Am Berkman Klein Center für Internet und Gesellschaft der Harvard Universität und am MIT erforscht sie, welchen Einfluss vernetzte Geräte und die Immer-Online-Mentalität auf das Leben haben.

In ihrem Buch Calm Technology, Design for the Next Generation of Devices fordert sie Unternehmen auf, technische Lösungen zu finden, die uns wieder mehr zum Menschen machen und nicht unsere Aufmerksamkeit stehlen. WIRED hat mit ihr am Rande der IFA über Sinn und Unsinn von AI und Smarthome geredet und ob uns technische Errungenschaften auch ein Stück Freiheit zurückgeben können.

WIRED: Was ist Calm Technology?
Amber Case: Es ist ein Konzept, das schon in den 90er Jahren von Mark Weiser und John Seeley Brown entwickelt wurde. Die Prämisse war, dass es irgendwann mehr Geräte als Menschen geben wird. Technologie ist dann nicht mehr die knappe Ressource, sondern erfordert unsere Aufmerksamkeit. Calm Technology ist ein Weg, mit dem Internet of Things umzugehen und zu verhindern, dass es zu viel unserer Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt.

Technologie muss elegant scheitern, weil wir eine ununterbrochene Bandbreite nicht garantieren können

Amber Case

WIRED: Wie muss Technik sein, damit das nicht passiert?
Case: Wir müssen Geräte entwickeln, die an unserer Seite arbeiten und nicht aufdringlich sind. Mark Weiser sagte, dass wir smartere Menschen statt smartere Technik brauchen. Information kann über verschiedene Sinne transportiert werden, nicht nur durch den optischen Sinn, damit die Technik nicht in unserem Primärfokus ist. Sie kann auch im Sekundär- und Tertiärfokus sein.

WIRED: Moment, moment, jetzt wird es ein wenig kryptisch…
Case: Schauen Sie, viele Unternehmen haben Angst, dass sie auf der Strecke bleiben, wenn sie keinen Smart-Chip in ihr Gerät einbauen. Dabei ist es gar nicht notwendig, einen smarten Kühlschrank mit Fingerabdrucksensor zu haben. Ich will mir keine Sorgen darüber machen müssen, dass mein Kühlschrank sich mit anderen Kühlschränken zu einem Bot-Net zusammenschließt und Webseiten attackiert, wenn ich nicht zu Hause bin. Ich will keinen smarten Futternapf, der meine Hunde und Katzen verhungern lässt, wenn die Internetverbindung abbricht. Wir müssen smarte Geräte wie Rolltreppen produzieren, die einfach zu normalen Treppen werden, wenn sie versagen.

WIRED: Aber was bedeutet das konkret?
Case: Technologie muss elegant scheitern, weil wir eine ununterbrochene Bandbreite nicht garantieren können. Calm Technology bedeutet, zu überlegen, wie man ein Problem mit der geringsten Menge an Technik lösen kann. Wie bekommen wir smartere Menschen statt smartere Technik? Jedes Mal, wenn Technik versucht, menschlich zu sein, müssen Menschen zurückstecken, was eigentlich unerträglich ist.

WIRED: Hast du Beispiele für ein gelungenes Gerät nach diesen Prinzipien?
Case: Der Staubsaugerroboter Roomba macht verschiedene Klänge, wenn er fertig ist. Es ist eine Art fröhlicher Ton. Und er spielt einen traurigen Ton, wenn er irgendwo feststeckt. Du schaltest ihn an und er saugt automatisch die Wohnung. Dann gibt es ein Gerät namens AIRWAIR. Das ist ein Detektor für die Luftqualität, der durch eine Lampe anzeigt, ob die Qualität gut, mittel oder schlecht ist. Und es gibt einen Wasserhahn, der die Wassertemperatur anhand von farblichen LEDs anzeigt – ziemlich nützlich.

WIRED: Viele neue Geräte versuchen trotzdem, menschlicher zu werden. Viele Jobs sollen in einigen Jahren von Robotern übernommen werden.
Case: Zu Beginn der industriellen Revolution begannen der Film und das Theater plötzlich keine Geschichte mehr über Mensch vs. Natur zu erzählen, sondern Mensch vs. Technik. Wir mussten die Industrie also personifizieren und gaben ihr die Form eines Menschen. Science-Fiction hat alles ruiniert, da kommt die Idee her, Technik müsse menschlich sein. Es gibt diese Vorstellung, dass Künstliche Intelligenz alle Probleme lösen wird. Dabei sind es nur weitere Black Boxes, die komplexer sind und geupdatet werden müssen.

WIRED: Wie sähe dann eine bessere Zukunft mit Robotern aus?
Case: Es ist besser, wenn Technik die Menschen bei ihrer Arbeit unterstützt und sie nicht ersetzt. Technik sollte weiterhin symbiotisch mit Menschen arbeiten. Ein Hammer existiert an der Seite eines Menschen. Er handelt nicht eigenmächtig. Wir müssen uns daran erinnern, wie gut es ist, wenn Systeme mit Menschen zusammenarbeiten und ihnen nicht alle Entscheidungen abnehmen.

So viele Unternehmen handeln aus Angst, dass es keinen Fortschritt gibt, wenn sie ihren Geräten keine AI geben

Amber Case

WIRED: Werden Unternehmen das begreifen?
Case: Vielleicht. Aber so viele Unternehmen handeln eben aus Angst, dass es keinen Fortschritt gibt, wenn sie ihren Geräten keine AI geben. Das ist ein grundlegendes Problem. Sie werden viel Geld für diese Dinge verschwenden. Ich weiß, das ist keine weit verbreitete Meinung, aber im Laufe der Zeit – vielleicht in 20 oder 50 Jahren – werden diese Dinge scheitern. Die intelligenten Geräte haben keine Bedeutung. Sie sind nicht schön, nicht elegant, sie sind nichts, was ich in meinem täglichen Leben haben will. Sie sind nicht notwendig.

WIRED: Ist das auch ein Grund, warum Google Glass scheiterte? Die Menschen sind noch nicht bereit für diese Technologie?
Amber Case: Menschen brauchen eine gewisse Zeit, um sich an eine bestimmte Technologie zu gewöhnen. Und Google Glass hatte um die 15 Funktionen. Dazu zählten unter anderem eine Videokamera, ein Messenger, ein Head-Up-Display, eine neue Art, den Akku zu laden, Google Hangouts. Aber Menschen können erst einmal nur eine Funktion verarbeiten. Wenn es nur ein In-Ear-Gerät gewesen wäre, das mich per GPS navigiert: super. Oder nur eine neue Art, um Fotos zu schießen: auch toll. Menschen haben keine Angst vor der GoPro, was auch etwas ist, was man auf dem Kopf tragen kann.

WIRED: Eines der Prinzipien von Calm Technology ist, dass es sich den sozialen Normen anpassen sollte und Menschen langsam an neue Funktionen herangeführt werden müssen. Technik, die heute als zu aufdringlich empfunden wird, könnte morgen schon normal sein, oder?
Amber Case: Klar. Aber eine gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensweise ist es auch, stundenlang vor Netflix zu sitzen und nicht ein Mal aufs Klo zwischendurch zu gehen. Oder tonnenweise Informationen auf unseren Smartphones zu horten. Wir haben einige ziemlich ungesunde Verhaltensweisen entwickelt, die mittlerweile zur Norm geworden sind. Wir mögen heute darüber lachen, ungesund sind sie trotzdem. Es ist einfach nicht notwendig, überall Chips zu integrieren. Vielleicht überlebt eines von zehn dieser Geräte den Test der Zeit. Aber das ist auch okay. Es ist okay, Dinge auszuprobieren.

WIRED: Nach dem Trial-and-Error-Prinzip?
Amber Case: Genau. Es sollte nicht verboten werden. Ich sage nur, dass, wenn die Leute denken, ihr Produkt sei das beste der Welt, es aber selber nicht einmal in ihrer Wohnung haben wollen, das der Punkt ist, an dem es albern wird. All diese roboterartigen Geräte sollen uns im Alltag unterstützen, etwa, indem sie auf das Kind aufpassen. Nein. Menschen sollten auf Kinder aufpassen.

WIRED: Auch ohne Smarthome fordert allein schon das Smartphone eine Menge Aufmerksamkeit von uns.
Amber Case: Das stimmt. Im alten Griechenland gab es zwei Vorstellungen von Zeit. Die unstrukturierte Kairos-Zeit ist die, in der man aus dem Fenster schaut und seinen Gedanken nachhängt, Geburtstage feiert oder Zeit mit der Familie verbringt. Und dann gibt es die Chronos-Zeit, die strukturiert, geplant und vorhersehbar ist. Wenn wir diese vielen Benachrichtigungen auf unsere Smartphones bekommen, wechseln die meisten in diese Chronos-Zeit. Dort bleiben wir hängen und haben viel weniger Zeit zum Denken. Aber genau das ist es, worin Menschen so gut sind. Es ist schwer, das abzustellen. Aber es ist eben nicht normal, die ganze Zeit auf seinen Bildschirm zu starren – schlecht für die Gesundheit dazu.

WIRED: Kann Technik dabei auch helfen, die Zeit zurückzubekommen?
Amber Case: Das wäre nett. Menschen sollten aber auch mehr Selbstkontrolle üben. Wir brauchen einen Mix und müssen uns daran erinnern, wie es war, nicht ständig online zu sein. Schaltet den Flugzeugmodus an und holt euch eure Zeit wieder.

GQ Empfiehlt