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Venice Time Machine: Aus Geschichte muss dringend Big Data werden!

von Anna Schughart
Die Venice Time Machine ist Facebook, Suchmaschine und Google Maps in einem. Allerdings nicht für das Venedig der Gegenwart, sondern der Vergangenheit. Das Projekt verwandelt tausende historische Dokumente in Daten. Was sagen sie uns über die Zukunft?

Venedig hat eine reiche Geschichte und Frédéric Kaplan lässt sie wieder auferstehen. Die Venice Time Machine – eine Kooperation der École Polytechnique Fédérale de Lausanne und der Ca'Forscari University of Venice – erschafft ein multimediales Modell von Venedig über einen Zeitraum von mehr als 1000 Jahren. Für das Projekt werden dutzende Kilometer Archivmaterial analysiert – aus Geschichte wird Big Data.

Scanner verwandeln zahlreiche Dokumente in tausende Bilder, Machine-Learning-Netzwerke analysieren ihren Inhalt, finden Zusammenhänge zwischen Namen, Orten und Ereignissen. Die Archivare übernehmen dann die Interpretationsarbeit. Doch die Venice Time Machine soll erst der Anfang sein. Kaplan, der Projekt-Direktor, glaubt: „Big Data of the past“ wird unseren Umgang mit der Vergangenheit revolutionieren.

WIRED: Wie reisen wir mit der Venice Time Machine in die Vergangenheit?
Frédéric Kaplan: Wir erforschen mit diesem Projekt, wie wir die Digitalisierung dazu nutzen können, um archivierte Dokumente zu transformieren und miteinander zu verbinden. Wir wollen zeigen, dass es möglich ist, eine sehr dichte Repräsentation der Vergangenheit zu schaffen, die fast genauso dicht ist wie die Gegenwart. Und dass in diesen Archiven wichtige Informationen für unsere Zukunft liegen.

WIRED: Ist das Ergebnis dann ein Google des historischen Venedigs?
Kaplan: In einem ersten Schritt, Ja. Eine Suchmaschine, die den Zugang zu Dokumenten erst ermöglicht. Denn es gibt im Archiv Kilometer von Dokumenten, die nicht digitalisiert sind. Teilweise wurden sie nach ihrer Anfertigung nie wieder gelesen. In dieser ersten Phase wollen wir es möglich machen, sie alle so einfach zu durchsuchen, wie man das Internet heutzutage mit Suchmaschinen durchsucht.

WIRED: Und der nächste Schritt?
Kaplan: Der wird etwas abstrakter. Wir müssen die Orte und Menschen identifizieren, die in diesen Dokumenten vorkommen und sie miteinander verbinden. So verwandeln wir die Dokumente in Informationssysteme. Man kann dann nicht nur nach einer bestimmten Person suchen, sondern auch herausfinden, wo sie lebte, welche Arbeit sie hatte, mit welchen anderen Venezianern sie interagierte – eben alles, was von der Verwaltung aufgezeichnet oder in einer Chronik beschrieben wurde. Auf diese Art und Weise bringen wir hunderttausende Menschenleben zurück, die vorher nie erforscht wurden. Wir verwenden auch Katasterkarten, um die Menschen und ihre Aktivitäten zu lokalisieren, sodass sich dieses Informationssystem in Raum und Zeit entfaltet.

In 50 Jahre wird es mehr tote als lebende Menschen auf Facebook geben

Frédéric Kaplan

WIRED: Also ein historisches Facebook mit angeschlossenem Google-Maps?
Kaplan: Wir fügen noch einen zeitlichen „Schieberegler“ dazu. Man kann heute im Internet schnell Dokumente suchen oder sich durch ein Gebiet navigieren, aber es ist zeitlich nicht indiziert. Das ist ein Problem. Nicht nur, weil viele Informationen über die Vergangenheit fehlen.

WIRED: Auch weil das Internet keine Zeit und damit Geschichte kennt.
Kaplan: Unsere Technologie ist dafür nicht bereit. Wir müssen uns zwangsläufig auch im Internet bald mit der Vergangenheit auseinandersetzen. In 50 Jahre wird es mehr tote als lebende Menschen auf Facebook geben. Es ist nicht klar, ob wir wollen, dass Facebook eine Erinnerungsfunktion übernimmt. Oder ob Facebook das möchte – es ist ja nicht sein Geschäftsmodell. Die Venice Time Machine will das Internet auch herauszufordern, die zeitliche Dimension zurückzubringen und dabei open-source-Technologien zu verwenden.

WIRED: Und die Venice Time Machine ist dafür ein Beispiel?
Kaplan: Die Venice Time Machine zeigt, dass man mit der Kombination aus Machine-Learning und geisteswissenschaftlichem Know-How eine dichte Rekonstruktion der Vergangenheit schaffen kann. Wir haben zum Beispiel die Entwicklung der gleichen venezianischen Nachbarschaften über 1000 Jahre hinweg modelliert, für einen bestimmten Bereich rekonstruieren wir die gesamte Bevölkerung.

WIRED: Kann man diese Methode auch auf andere Städte und Regionen übertragen?
Kaplan: Ja, dieser Ansatz lässt sich skalieren. Wir schaffen gerade zusammen mit hundert Institutionen aus 22 Ländern ein Konsortium zu diesem Thema. Damit wollen wir uns um einen Platz in der European FET Flagship bewerben, das Projekte über zehn Jahre mit bis zu einer Milliarden Euro fördert. Wir wollen dabei nicht nur Wissenschaftler, sondern auch die europäischen Bürger beteiligen und so Millionen von Dokumenten mit Millionen von Teilnehmern verbinden. Pilotprojekte in Amsterdam, Paris, Nürnberg und Jerusalem nehmen bereits Gestalt an.

Ohne Daten über die Vergangenheit kann man sich die Zukunft nicht vorstellen.

Frédéric Kaplan

WIRED: Die europäische Flagship-Initiative fördert die dringendsten wissenschaftlichen Herausforderungen. Wie wollen Sie sich gegen Projekte, die sich beispielsweise mit dem Klimawandel oder der Robotik beschäftigen, durchsetzen?
Kaplan: Dafür gibt es zwei verschiedene Argumente. Eines ist ökonomisch: Wir gehen davon aus, dass das Projekt einen großen ökonomischen Einfluss haben wird, besonders im Tourismus, in der Medienbranche, aber auch bei der Entwicklung von Startups. Diese können die vielen Daten ausnutzen, um mit Hilfe von künstlicher Intelligenz Vorhersagen zu machen. Im Allgemeinen wird „Big Data of the past“ wahrscheinlich viele Industrien „disrupten“ und politische und ökonomische Entscheidungen bestimmen. Denn: Ohne Daten über die Vergangenheit kann man sich die Zukunft nicht vorstellen.

WIRED: Und das zweite Argument?
Kaplan: Wir leben in einer Zeit, in der Menschen die Vergangenheit manipulieren und verschiedene Erzählungen darüber verbreiten, was Europa ist, was es sein sollte, wer wir sind. Diese Geschichten bekommen – anstelle der ernsthaften historischen Forschung – den Großteil der medialen Aufmerksamkeit und verbreiten sich über die sozialen Medien. Wir wollen zu diesem Trend eine Alternative, bei der wir die europäischen Bürger an der Rekonstruktion einer gemeinsame Geschichte beteiligen, basierend auf dem direkten Zugang zu Quellen. Wenn wir nicht in der Lage sind, die Vergangenheit in ein Projekt zu verwandeln, an dem wir gemeinsam bauen, riskieren wir, bloß zu einfache Erzählungen zu haben, die politisch motiviert sind. Desinformation in Europa könnte schlicht das Ende von Europa sein.

WIRED: Was genau ist denn an der Art, wie Geschichte derzeit kommuniziert wird, so gefährlich?
Kaplan: Geschichte ist komplex und vielschichtig. Wenn jeder Zugang zu Details, zu Quellen und Interpretationen hätte, und nicht bloß zu einer kleinen Anzahl von Bestseller-Büchern, würde das unser Verhältnis zu historischen Dingen verändern. Und wenn der Zugriff demokratisiert wäre, könnten die Menschen zu ihrer eigenen Geschichte, der Geschichte ihrer Straße oder Region, beitragen, sie dokumentieren und interpretieren. So wird man zum aktiven Erbauer und beteiligt sich an der kollektiven Verhandlung über Geschichte. Man kann sich besser ins Verhältnis zur Vergangenheit setzen, die so Teil der eigenen Gegenwart wird.

Wir können heute, dank der neuen Technologien, die Geisteswissenschaften auf ein neues Level bringen

Frédéric Kaplan

WIRED: Aber ist die Erforschung beispielsweise des Klimawandels nicht trotzdem wichtiger?
Kaplan: Als Europäer sind wir reich an unserer komplexen und widersprüchlichen Vergangenheit, die voller Konflikte und Lösungen, voller Krieg und Frieden ist. Sie ist ein einzigartiges Gut und wir haben ein einzigartiges Know-How entwickelt, um sie in Gold umzuwandeln. Ich bin davon überzeugt, dass die Vergangenheit unsere Zukunft ist. Wir können die Weltführung in diesem neuen Fachgebiet werden. Im Vergleich dazu ist es deutlich schwieriger, davon überzeugt zu sein, dass die europäischen Länder ganz sicher die Weltführung im Bereich der Klimawandel- oder Nanotechnologie übernehmen können. Obwohl das natürlich wichtige Themen sind.

WIRED: Sie wirken sehr alarmiert, wenn Sie über die Zukunft sprechen. Warum?
Kaplan: Wir können heute, dank der neuen Technologien, die Geisteswissenschaften auf ein neues Level bringen. Durch das Machine-Learning ist es möglich, mit großen Mengen an Daten umzugehen. Diese Systeme können Millionen von Fotoaufnahmen analysieren, handschriftliche Dokumente erkennen und verschiedene Konfigurationen simulieren, die mit den vorhandenen Daten kompatibel sind. Wir können nicht nur Wissenschaftlern, sondern Millionen von motivierten Nutzen Zugang zu diesen Werkzeugen geben. Aber wir müssen das jetzt tun, sonst wird es zu spät sein.

WIRED: Und dann?
Kaplan: In ein paar Jahren werden die meisten meiner Studenten nach dem Jahr 2000 geboren worden sein, in einer Welt, in der es Google immer gab. Die Vorstellung, dass es noch andere Informationen geben könnte, die nicht mit einer Suchmaschine zugänglich sind, ist ihnen völlig fremd. Zukünftige Generationen werden gar nicht erst daran denken. Der Kontinent der Vergangenheit wird vollständig vom Kontinent der Gegenwart getrennt sein. Wenn wir keine Möglichkeit finden, die beiden Kontinente wieder miteinander zu verbinden, wir die Vergangenheit einfach verschwinden. Und ohne Vergangenheit hat eine Gesellschaft keine Zukunft.

WIRED: Dann gehen wir doch noch mal zurück in das Venedig der Vergangenheit. Wie viele Dokumente haben Sie bereits digitalisiert?
Kaplan: Wir arbeiten seit vier Jahren und haben Lösungen für eine massive Digitalisierung getestet und eine neue Art von Scanner entwickelt. In dieser ersten Phase wurden etwa eine halbe Millionen Dokumenten digitalisiert. Das sieht vielleicht viel aus, ist aber in Wirklichkeit eher lächerlich im Vergleich zu dem Material, das wir noch abdecken müssen.

WIRED: Wie wollen Sie das denn alles schaffen?
Kaplan: Wir müssen politische und kommerzielle Akteure davon überzeugen, dass es in der „Big Data“ der Vergangenheit „Gold“ gibt. Es ist, wie eine Expedition in die Neue Welt zu organisieren. Wenn die ersten Boote voller Schätze zurückkommen, wird es viel einfacher werden, Kredit zur Erforschung dieser neuen Gebiete zu bekommen und die Digitalisierungsaktionen zu vervielfältigen.

WIRED: Und Sie sind sicher, dass die Daten aus der Vergangenheit so wertvoll sind?
Kaplan: Wie ich schon gesagt habe, bin ich davon überzeugt, dass es einen großen ökonomischen Nutzen hat, wenn man die Vergangenheit zurückholt. Mehrere wirtschaftliche Akteure sind davon bereits schon überzeugt. Einige private Unternehmen finanzieren zum Beispiel die Digitalisierung von alten Registern, um so genealogische Informationen zu rekonstruieren. Sie haben gezeigt, dass Menschen bereit sind, viel zu bezahlen, um Zugang zu ihren eigenen Wurzeln zu haben. Und dass dieses Material auch die Grundlage einer genetischen Datenbank ist.

WIRED: Das alles klingt ein bisschen nach Wild Wild West.
Kaplan: Der Zugang zu diesen Daten ist wie eine neue Form des Kapitals. Wenn die Menschen das verstanden haben, gibt es das Risiko – aber auch die Chancen – eines Goldrausches. Wir sollten dieses neue Interesse nutzen, um wirtschaftliche Akteure zu überzeugen, zu investieren. Aber wir müssen vorsichtig sein, dass die Vergangenheit nicht zu einem Gebiet für wilden Kapitalismus wird. Das steht auf dem Spiel, wenn es um die Idee geht, eine gemeinsames Patrimonium aus Werkzeugen und Daten zu schaffen, das garantiert, dass die Vergangenheit eine gemeinsam geteilte Ressource für die Zukunft ist.

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