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Ohren aus Äpfeln: Dieser Biohacker entwickelt Implantate zum Selbermachen

von Anna Schughart
Rückenmark aus Spargel? Der Physiker und Biohacker Andrew Pelling forscht nur an Ideen, die ihm verrückt genug sind. Im WIRED-Interview erklärt er, warum wir uns bald alle neue Nasen züchten werden – und was das alles mit einer menschenfressenden Pflanze zu tun hat.

Das Labor von Andrew Pelling an der Universität Ottawa ist ein besonderer Ort. Hier treffen sich Menschen aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen, um an Zellen zu forschen: wie man sie manipulieren, in fremde Umgebungen stecken oder umfunktionieren kann. Oder auch: wie man ohne Gentechnik eine menschenfressende sprechende Pflanze zum Leben erweckt. Was abwegig klingt, hält Pelling längst für machbar.

Im WIRED-Interview erklärt der Wissenschaftler, wie man Obst und Gemüse nutzen kann, um Organe zu züchten und warum er glaubt, dass wir bald alle an unseren eigenen Gesichtern herumbasteln.

WIRED: Sie bezeichnen sich selbst als Biohacker. Computerhacker machen sich an digitalen Codes zu schaffen. Widmen Sie sich dann entsprechend der DNA, dem genetischen Code?
Andrew Pelling: Das verbinden die meisten Menschen mit dem Begriff Biohacking. Aber ich mag Genetik nicht – auch wenn das keine beliebte Meinung ist. Genome und CRISPR langweilen mich. Es ist alles ein bisschen offensichtlich. Klar, nichts davon ist einfach, aber ich verstehe es relativ schnell: Man nimmt eine Sequenz und bastelt daran herum.

WIRED: Und was machen Sie stattdessen?
Pelling: Es gibt den alten Begriff des „physical hackings“. Weil ich Hardware mag, habe mich gefragt, ob man das auch auf die Biologie anwenden kann: Kann ich Teile eines biologischen Systems nehmen, mit einem anderen System vermanschen und dann beobachten, ob etwas passiert? Das ist nicht modern oder populär, aber ich finde, es ist ein bisschen schwerer. Wir schaffen so erweiterte biologische Systeme. Deshalb sprechen wir neuerdings auch lieber von „augmented biology“. Wir machen zum Beispiel diese Gewebe, die zum Teil menschlich sind, zum Teil von einem Apfel stammen.

Ich dachte, dass wir am Schluss viele tote Mäuse haben würden, aber es lief wirklich gut

WIRED: Halb Mensch, halb Apfel?
Pelling: Ja, das ist eigentlich ganz einfach, man kann es fast zu Hause machen. Zuerst muss man den Apfel dezellularisieren. Das ist eine Technik, die normalerweise bei menschlichem oder tierischem Gewebe angewendet wird und bei der alle Zellen aus einem Gewebe entfernt werden. Wir haben das auf Pflanzen angewendet. Das heißt, wir entfernen alle Apfelzellen und alle DNA und haben dann nur noch ein faseriges Gewebe, die Cellulose. Ein wirklich tolles, billiges und stabiles Material.

WIRED: Damit ist der Apfel-Teil klar. Aber wie wird das Gewebe dann menschlich?
Pelling: Man nimmt einfach eine Pipette und schmeißt ein paar menschliche Zellen darauf. Irgendwann fangen sie an, auf diesem Gerüst zu wachsen. Das ist aber nur der erste Schritt. Was wirklich cool ist: Man kann den Apfel in jede beliebige Form schneiden und die Zellen, die darauf wachsen, nehmen dann diese Form an.

WIRED: Also zum Beispiel Nasen und Ohren?
Pelling: Genau. Heute reden alle über 3D-Drucker. Aber die sind so nervig. Zum Markt gehen und einen Apfel kaufen, das kann jeder – und schon ist man startklar.

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WIRED: Aber kann man diese Apfelnasen und -ohren auch implantieren?
Pelling: Wir haben ein Pilotexperiment mit Mäusen gemacht und ehrlich gesagt dachte ich, dass wir am Schluss viele tote Mäuse haben würden. Aber es lief wirklich gut. Wir haben einen Apfel dezellularisiert und in die Mäuse implantiert. Der Mauskörper hat dann neue Zellen, Blutgefäße und Kollagen hineingeschickt. Es gab keine Abstoßung, nicht eine einzige Maus hatte eine Infektion. Das ist extrem ungewöhnlich. Die Wunden verheilten und das Gewebe war völlig integriert.

WIRED: Heißt das, diese Technik könnte eines Tages dazu verwendet werden, um Organe zu produzieren? Eine Leber zum Beispiel?
Pelling: Eine Leber ist extrem kompliziert und hat viele verschiedene Zelltypen, ich weiß nicht, ob man dafür Cellulose verwenden könnte. Gerade arbeiten wir an Knochen und Rückenmark. Für das Rückenmark nehmen wir Spargel, für die Knochen Birne und Apfel. Das sind riskante Projekte, ich weiß nicht, was passieren wird. Außerdem versuchen wir, Blütenblätter bei Wunden einzusetzen.

Eigentlich wollten wir die sprechende Pflanze aus dem Kleinen Horrorladen züchten

WIRED: Welche Anwendungen gibt es dafür?
Pelling: Es ist eine Möglichkeit, sehr billig Implantate herzustellen. Zum Beispiel in einem Kriegsgebiet, wo die Menschen Zugang zu Biomaterialien brauchen, um Wunden zu behandeln. Dort kann sich kein Krankenhaus Sachen mit FedEx schicken lassen. Aber vielleicht könnten die Krankenhäuser diese Materialien vor Ort mit lokalen, pflanzenbasierten Zutaten herstellen. Wir arbeiten gerade auch an einer Paste, die aus den Sachen hergestellt wird, die täglich im Supermarkt weggeschmissen werden und die als Quelle für Biomaterial dienen könnte. Aber ehrlich gesagt finde ich nicht die medizinischen Anwendungen am interessantesten, sondern die kosmetischen.

WIRED: Wieso?
Pelling: Es ist so einfach diese Materialien zu präparieren, dass wir sie dazu nutzen können, unsere Körper zu erweitern. Es wäre möglich, ein Blatt zu dezellularisieren und es dann in unseren Körper zu implantieren – anstelle der Tattoos, die sich die Leute heute noch von Blättern stechen lassen. Vielleicht gibt es in der Zukunft Künstler, die Spezialisten für Gewebe-Kunst sind. Ich finde diese Idee wirklich faszinierend und ich glaube, dass es auch die greifbarste Anwendung ist.

WIRED: Und irgendwann können dann alle selbst bestimmen, wie ihre Nase aussehen soll?
Pelling: Ja, vielleicht. Ich stelle mir das gerne als mögliche Zukunft vor.

WIRED: Warum fasziniert Sie diese Vorstellung so?
Pelling: Es geht darum, seinen eigenen Körper zu besitzen, und zwar ohne tausende oder hunderttausende Dollar für Materialien oder den Zugang dazu zahlen zu müssen. Warum sollten wir ein Unternehmen oder eine Maschine bestimmen lassen, wie unsere Körper aussehen? In der Zukunft werden wir sowieso voller Implantate sein, warum also sollten wir nicht das Aussehen oder die Funktionalität selbst bestimmen? Eines Tages können wir vielleicht auch Elektronik in die Implantate einbauen und ich kann dann meiner Haut in meinem Kellerlabor eine neue Funktionalität geben. Man hätte dann zu Hause eine Küche, ein Bad – und ein Labor.

WIRED: Wenn das Verfahren so einfach und billig ist, wieso hat es nicht schon längst jemand anderes gemacht?
Pelling: Wir haben es ja auch nicht versucht. Eigentlich wollten wir die sprechende Pflanze aus Der kleine Horrorladen züchten.

WIRED: Sie wollten was, bitte?
Pelling: Das ist ein furchtbarer Film über eine große Pflanze, die Menschen isst. Wir haben uns gefragt: Können wir Audrey II (Anm. d. Red.: So heißt die sprechende Pflanze) züchten? Wir haben also versucht, auf einem Blatt Muskelfasern wachsen zu lassen, damit es sich öffnen und schließen kann.

WIRED: Und?
Pelling: Das hat nicht wirklich funktioniert, unter anderem, weil die Oberfläche eines Blatts ziemlich wächsern ist. Aber der Student, der sich damit beschäftigte, sah einen anderen Kollegen einen Apfel essen und ihm war klar, dass das Problem lösen würde, weil er den Apfel schälen konnte. So sind wir auf den Apfel gestoßen – keine offensichtliche Wahl. Die gängige Meinung ist: Wenn du ein Biomaterial als Implantat verwenden willst, sollte es der natürlichen Umgebung entsprechen oder sie imitieren.

WIRED: Und Sie sehen das anders?
Pelling: In der Biologie züchten wir Zellen in Petrischalen aus Plastik oder Glas. All diese Studien, die zu Annahmen darüber führen, wie Krebs funktioniert oder wie wir uns entwickeln oder wie Medikamente funktionieren, basieren auf Zellen, die sich in einer wirklich künstlichen Umgebung befinden. Ich meine: Glas! Also habe ich mir gesagt: Vergesst die natürlich Umgebung. Wie künstlich können wir die Umgebung machen? Mäusezellen in einem Apfel zu züchten, das ist schon ziemlich künstlich. Und in diesem Fall hatte es sogar noch eine echte Anwendung.

WIRED: Ihr Labor funktioniert ein bisschen anders als andere, oder?
Pelling: Absolut. Ehrlich gesagt, habe ich gedacht, dass ich meinen Job verlieren würde. Aber ich hatte das Glück, in meiner Karriere erfahrene ältere Wissenschaftler als Mentoren zu haben. Und ein Kommentar, den ich immer wieder gehört habe, war: „Jetzt wo ich 63 Jahre alt bin und mich auf meine Rente vorbereite, kann ich endlich die Wissenschaft machen, die ich immer machen wollte.“ Ich wollte nicht mehr als 30 Jahre warten, um die Fragen zu stellen, die ich stellen will. Also habe ich mein Labor auf dem Prinzip des Spielens gegründet.

Wenn ich deine Idee googeln kann, sind wir nicht interessiert

WIRED: Wie sieht das aus?
Pelling: Wir lassen die Leute machen, wir probieren Dinge aus, wir stellen Fragen und das Grundprinzip ist: Wenn wir auf eine Idee stoßen, dann fangen wir an, zu bohren. Wir stellen eine Hypothese auf und bearbeiten sie mit wissenschaftlichen Methoden. Ja, es ist oft eine verrückte Idee, aber wir gehen sie systematisch und wissenschaftlich an. Meistens schlägt das fehl, aber man lernt eine Menge während des Prozesses.

WIRED: Kommen Leute zu Ihnen und sagen: Ich habe eine super Idee, was ich mit diesem Brokkoli machen könnte, kann ich bei Ihnen im Labor arbeiten?
Pelling: Ja. Das Labor ist immer voll mit Künstlern, Sozialwissenschaftlern und Naturwissenschaftlern. Aber das Problem ist: Wir sind auf dem Campus und das ist für viele eine Hürde. Deshalb wollen wir Ende des Sommers ein Labor mitten im geschäftigsten, touristischen Teil von Ottawa eröffnen. Momentan suchen wir noch nach Menschen mit Projekten, die komplett verrückt sind und die niemand jemals finanzieren würde. Die einzige Bedingung: Wenn ich die Idee googeln kann, sind wir nicht interessiert. Und dann werden wir daran arbeiten. Die meisten werden scheitern, aber hin und wieder wird es eine Idee geben, die funktioniert und bei der wir sagen: Holy shit! Das ist extrem cool, und zwar auf eine Art, wie wir es nie erwartet hätten. 

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