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Unsere Einstellung zum Digitalen braucht einen Reboot!

von Max Biederbeck
Das Leben in der digitalen Welt scheint seinen Zauber verloren zu haben. Stattdessen regieren Misstrauen und Angst. Das muss nicht sein, wir müssen nur unsere Einstellung rebooten. Ein Essay.

Es ist der Beginn des Jahres 2015 und die einstige Euphorie scheint einer gewissen Erschöpfung gewichen zu sein. Ein Smartphone, das man durch Hin- und Herwischen bedient, eine Brille, die eine virtuelle Welt erschafft, ein Netzwerk, das uns ein Universum aus Informationen eröffnet: Das ist die eine Seite der Digitalisierung und wir haben uns an sie gewöhnt. Sie ist uns oft kaum noch erwähnenswert, flasht so überhaupt nicht mehr.

Der Spaß ist zu universellem Unbehagen geworden. Hat das Netz für alle Zeiten seine Unschuld verloren, seine Freiheit?

Die andere Seite ist abstrakt und diffus, so mächtig und scheinbar unkontrollierbar, dass wir uns fast mit ihr abgefunden haben: die Datensammelwut der Netzkonzerne, die Überwachung durch Nachrichtendienste, die Kommerzialisierung eines Raums, der früher so viel anarchischen Spaß gemacht hat. Der Spaß aber ist zu universellem Unbehagen geworden. Auf Konferenzen, im Büro, am Küchentisch, ständig taucht mittlerweile die Frage auf: Hat das Netz für alle Zeiten seine Unschuld verloren, seine Freiheit? Antworten darauf lassen sich in einem Haar und ein paar Spraydosen finden.

Die Künstlerin Heather Dewey-Hagborg hat für ihr Projekt „Stranger Visions“ in den vergangenen Jahren ziemlich viele Haare gesammelt — wurde mit ihnen weltbekannt. Sie habe sie irgendwann einfach überall gesehen, sagt die New Yorkerin. In der U-Bahn, an Gläsern im Restaurant und auf Straßenbänken in Brooklyn. Das erzählte sie vor kurzem auf dem Festival transmediale in Berlin. Und bediente damit perfekt das Motto der Veranstaltung „CAPTURE ALL“— fangt alles ein. Auch hier ist die Abkehr von der Technikbegeisterung spürbar. Früher hießen die transmediale-Themen noch euphorisch „Do it Yourself!“ oder „Play Global!“.

Aber nein, die Biohackerin und Künstlerin Dewey-Hagborg hat keinen seltsamen Fetisch. Sie achtet mit gutem Grund auf etwas, das wir gern übersehen: auf biologische Daten-Spuren. „Wir hinterlassen Informationen nicht nur im Internet, sondern überall“, sagt sie. Und diese Informationen brachte Dewey-Hagborg in ein Labor.

Mal eben eine komplette Identität digitalisieren, analysieren und abspeichern

Sie extrahierte die DNA. „Das ist wahnsinnig einfach, das kann heute jeder und es wird auch schon von der Polizei genutzt“, sagt sie. Dann vervielfältigte die Bio-Hackerin das Material, digitalisierte die entstehenden Bio-Daten und gab sie in einen Computer-Algorithmus ein. Der begann zu rechnen, rekonstruierte Gene, ganze Gesichter, Wohngegenden, Geschlechter. „Wenn so ein Sample in behördlichen Datenbanken hinterlegt ist, könnte man sogar den Namen einer Person herausfinden“, sagt Dewey-Hagborg. Nur noch mal zusammengefasst: Da hat eine Künstlerin mal eben eine komplette Identität digitalisiert, analysiert und abgespeichert, indem sie ein Haar von einem U-Bahn-Sitz gekratzt hat.

Das klingt nach der Totalüberwachung aus dem Roman „1984“. Nach einer weiteren Möglichkeit, das Leben jedes einzelnen zu katalogisieren und nach politischen und wirtschaftlichen Interessen auszuwerten. Einfache Gentests gibt es jetzt schon. Vielleicht erinnert sich noch jemand an diese furchtbaren „Wer ist der Vater?“-Talkshows. Können wir uns in naher Zukunft also überhaupt noch gegen digitalen Missbrauch wehren, uns ausklinken, wenn wir das möchten?

Und wollen wir das überhaupt genug? NSA-Whistleblower Thomas Drake könnte Recht haben, wenn er sagt: „Der Drang nach Sicherheit seitens der Regierungen und ihrer Bürger führt dazu, dass sie mehr und mehr Überwachung zulassen werden.“

Zoon Digitalis — das scheint nicht mehr der digitale, sondern der auslesbare Mensch zu sein.

Das klingt so gar nicht nach der Neuerfindung der Zukunft, von der WIRED Germany berichten will. Das klingt nach digitaler Autokratie, aus der es selbst in der physischen Welt kein Entkommen mehr gibt. Nach Dystopie und Unrechtsystemen, Begriffen, die nicht nur Drake benutzt. Zoon Digitalis — das scheint nicht mehr der digitale, sondern der auslesbare Mensch zu sein. Der sich in seiner Welt als Analphabet bewegt, weil er nicht programmieren und sich deswegen auch nicht wehren kann. Und weil er eben nicht verhindern kann, dass er in der U-Bahn auch mal ein Haar verliert. Aber ist das wirklich die Wahrheit über unsere Zukunft?

Sie muss es nicht sein. Ein Reboot ist möglich und es gibt diejenigen, die über ihn nachdenken, ihn für möglich halten.

Heather Dewey-Hagborg zeigt das in ihrem zweiten Projekt „Invisible“, das sie ebenfalls auf der transmediale vorgestellt hat. Seit kurzem bietet sie es Open-Source im Internet an. Spray Nummer eins — „Erase“ — wirkt wie ein Desinfektionsmittel, das genetische Überreste entfernt. Um im Vokabular zu bleiben: ein Haarentferner. Das zweite Spray — „Replace“ — sprüht danach fremdes genetisches Material auf die Oberfläche, die man vorher gereinigt hat. Ein persönliches Camouflage-Tool.

Klar, wirklich alltagstauglich ist diese mobile chemische Keule nicht. Sie zeigt aber, dass sich Künstler, Programmierer und Biohacker durchaus überlegen, wie wehrhaft wir in der Zukunft sein müssen. Und wie wir den Umgang mit und die Definition von Privatsphäre neu denken können.

Zu ihnen gehört auch Zach Blas mit seinen Facial Weaponization Suites. Das sind in öffentlichen Workshops hergestellte Masken, die ihre Träger vor der biometrischen Erfassung von Gesichtsdaten schützen sollen. „Dieses Projekt ist utopisch, aber genau das Gegenteil von pessimistisch“, sagt Blas. „Es geht darum, politisches Neudenken zu verlangen, dafür zu kämpfen und sich nicht auf Daten reduzieren zu lassen.“

Ein ähnliches Projekt ist AdNauseam, über das WIRED Germany schon einmal berichtete. Dabei handelt es sich um ein einfaches Tool für Firefox, dass jegliche Werbeanzeigen online automatisch anklickt. Tracking-Programme können dadurch nicht mehr unterscheiden, welcher Klick echt ist und werlcher nicht. „Das ist ein Weg, sich gegen den wirtschaftlichen Missbrauch von Big-Data zu wehren“, sagt Mitentwickler Mushon Zer-Aviv.

Invisible, Facial Weaponization Suites, AdNauseum. Das sind nur drei Beispiele. Sie sind mehr oder weniger realistisch. Andere Aktivisten da draußen bauen gerade zum Beispiel völlig neue dezentralisierte (Mesh-)Netzwerke auf, einen neuen unkontrollierbaren Backbone für das Internet. Kryptopartys, PGP, Hacker-Camps, das sind für die meisten noch Fremdwörter. Aber dahinter stecken Menschen, die sich darum kümmern, dass der digitale Bürger zum ersten Mal wirklich mündig werden kann.

Das alles klingt nicht nach Dystopie, nicht nach Biedermeier-Kultur. Und schon gar nicht nach Erschöpfung. Es klingt nach Akzeptanz.

Ja, das ist Internet ist erwachsen geworden. Jetzt können, nein, jetzt müssen auch wir erwachsen werden. Das bedeutet, dass wir die digitale Welt weiterdenken müssen. Es ist noch nicht entschieden, wie sich die politische Kultur darin entwickeln wird. Wir bestimmen selbst, welchen sozialen und kulturellen Normen wir folgen. Und dann wird die Technik dabei helfen, sie umzusetzen. Sie ist nicht nur ein Instrument der Überwachung. Nicht unser Gegner in einer bösen grauen Welt der gesichtslosen Wirtschaftsunternehmen und Geheimdienste. Eben nicht „1984“.

Der Schlussatz kommt wieder aus einem Panel der transmediale, denn Mushon Zer-Aviv hat dort passende Worte gefunden. Er hatte nur rund 100 Zuhörer, aber sie alle klatschten vor Begeisterung, als er sagte: „Technodeterminismus ist Bullshit. We have things to do!“ 

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