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Wie geht's der deutschen Netzpolitik zur re:publica, Markus Beckedahl?

von Timo Brücken
In welchem Zustand ist die deutsche Netzpolitik sechs Monate vor der Bundestagswahl? Und welche Rolle spielt die am Montag in Berlin beginnende re:publica-Konferenz noch für die Szene? WIRED hat einen ihrer Gründer gefragt: Netzpolitik.org-Chef Markus Beckedahl.

WIRED: Markus, können Facebook und Google wirklich Wahlen beeinflussen?
Markus Beckedahl: Es gibt eine Menge Indizien dafür, dass sie vor allem in knappen Wahlkreisen die technischen Möglichkeiten und die Daten haben, um eine Wahlentscheidung zu drehen. Das wirft große demokratietheoretische Fragen auf, unter anderem die, wie wir sicherstellen können, dass die Unternehmen das nicht tun.

WIRED: Und wie stellt man das sicher?
Beckedahl: Wir müssen eine Nachvollziehbarkeit von Algorithmen bekommen und dazu neue Kontrollmechanismen und -strukturen einführen. Da stehen wir leider noch am Anfang der Debatte.

WIRED: Am Anfang? Gefühlt dreht sich doch seit Monaten jede zweite Schlagzeile um dieses Thema.
Beckedahl: Ja, aber die großen Lösungen haben wir noch nicht gefunden. Dafür ist auch mehr Forschung notwendig, um überhaupt die richtigen Antworten auf vollkommen neue Fragen zu finden: Wie geht man mit einer Künstlichen Intelligenz um, die sich via Machine Learning selbständig repliziert und verändert? Ist unser Rechtssystem damit überhaupt kompatibel? Und wer kann so eine Künstliche Intelligenz demokratisch kontrollieren, wenn ihre Erschaffer heute schon sagen, dass sie in Zukunft möglicherweise gar nicht mehr in der Lage sind, zu verstehen, was die KI tut?

Kurzfristig halte ich das Phänomen Social Bots für massiv überschätzt

Markus Beckedahl

WIRED: Also könnten die vielbeschworenen „Social Bots“ irgendwann wirklich zum Problem werden?
Beckedahl: Das ist ein ganz anderes Thema. Unter Social Bots versteht man, dass es Armeen aus künstlich geschaffenen Fake-Profilen gibt, die zusammengeschaltet die öffentliche Meinung beeinflussen sollen. Es gibt Hinweise, dass das in den Wahlkämpfen für den Brexit oder für Trump durchaus versucht wurde. Und seit den Snowden-Enthüllungen wissen wir, dass Bot-Armeen zum Arsenal von digitalen Geheimdiensten gehören. Langfristig müssen wir uns damit auseinandersetzen, weil auch hier demokratietheoretische Fragen aufgeworfen werden: Wie können wir grundrechtsfreundlich gewährleisten, dass die öffentliche Meinung nicht durch Bots manipuliert wird? Aber kurzfristig halte ich das Phänomen für massiv überschätzt. Es gibt bisher keine Indizien dafür, dass Social Bots im deutschen Bundestagswahlkampf eine solche Bedrohung darstellen, wie man nach der hysterischen Debatte der letzten Monate glauben könnte.

WIRED: Warum wurde trotzdem so lautstark davor gewarnt?
Beckedahl: Es gab sehr große Missverständnisse aufseiten technisch nicht ganz so versierter Politiker und Journalisten, die das Abendland vom Untergang bedroht sahen. Und nach der US-Wahl, als alle nach Antworten suchten, war das ja auch eine der ersten Erzählungen: Darum ist Trump Präsident geworden! Eine der ersten, aber eben keine ganz richtige. Das hat sich dann verselbständigt bis hin zu mehreren Anhörungen im Bundestag, wo es die unterschiedlichsten Ansichten gab, ob Social Bots überhaupt ein Problem darstellen oder nicht.

WIRED: Hat es da aus deiner Sicht mittlerweile einen Sinneswandel gegeben?
Beckedahl: Na ja, die Anhörungen im Bundestag haben zumindest den beteiligten Politikern gezeigt, dass die meisten Experten das Problem als nicht ganz so groß einschätzen, wie Menschen, die sich weniger damit beschäftigt haben.

Der Staat lagert die Aufgabe, Richter und Henker über die Meinungsfreiheit zu spielen, an Social-Media-Firmen aus

Markus Beckedahl

WIRED: Ihr habt euch bei Netzpolitik.org sehr klar gegen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ausgesprochen, mit dem die Bundesregierung die sozialen Netzwerke verpflichtet, mehr gegen Hate Speech zu tun. Warum?
Beckedahl: Weil der Staat damit die Aufgabe, Richter und Henker über die Meinungsfreiheit zu spielen, an Social-Media-Firmen auslagert. Es könnte eine halbe Selbstaufgabe der Demokratie bedeuten, wenn Plattformen wie Facebook für unseren öffentlichen Diskurs noch mächtiger und zentraler werden als bisher.

WIRED: Viele sagen aber auch, dass es gut ist, wenn diese Unternehmen endlich in die Pflicht genommen werden.
Beckedahl: Das mag sein. Aber wir finden die Löschfristen zu kurz und die Strafen zu hoch, was in unseren Augen dazu führt, dass eher zu viel als zu wenig gelöscht wird. Und vor allem vermissen wir in der Debatte konkrete Ideen für rechtsstaatliche Antworten auf die Hasskriminalität in den sozialen Netzwerken. Offensichtlich gibt es ein Durchsetzungsproblem: Wenn ich Anzeige wegen Hasskriminalität im Netz erstatte, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie wegen der viel zu aufwändigen bürokratischen Strukturen einfach irgendwo zwischen Polizei und der EU-Zentrale von Facebook in Irland versandet. Ich glaube, der kleinste gemeinsame Nenner zwischen denen, die das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ablehnen beziehungsweise befürworten, ist, dass Facebook und Co. in Deutschland direkte Ansprechpartner für die Behörden haben sollten, damit dieser bürokratische Irrsinn wegfällt.

WIRED: Auf der re:publica willst du am Montag einen netzpolitischen Jahresrückblick und -ausblick geben. Gib uns doch schon mal einen Vorgeschmack: In welchem Zustand ist die deutsche Netzpolitik sechs Monate vor der Bundestagswahl?
Beckedahl: Fast überall ist mittlerweile Netzpolitik drin, sie ist ein großes Querschnittsthema geworden. Wenn wir uns in der Redaktion die Sitzungswoche im Bundestag anschauen, kann es schon mal sein, dass 23 von 23 Ausschüssen irgendwas mit Netzpolitik diskutieren. Es gibt nicht mehr die eine netzpolitische Debatte, sondern viele einzelne und eine Vielzahl an Playern. Momentan gibt es einige große Debatten mit dem Potenzial, große Veränderungen auszulösen, die von zu wenigen Menschen bedacht werden. Zum einen die ePrivacy-Richtlinie als Ergänzung für die europäische Datenschutzgrundverordnung, wo es unter anderem um die Grenzen von Marketing, Targeting und Werbeformen geht. Die ist höchst umstritten, weil sehr viele Lobbyisten der Industrie mitmischen, aber kaum Betroffene, also wir, um deren Daten es geht. Zum anderen könnten wir dank des Erbes von Günther Oettinger eine Urheberrechtsreform bekommen, die das Netz immer noch aus der Sender-Empfänger-Perspektive betrachtet und nicht aus der, dass wir selbst Sender geworden sind, und dafür die Rahmenbedingungen bereitstellt. Und dann haben wir auf nationaler Ebene natürlich noch Gesetzgebungen wie das Netzwerkdurchsetzungsgesetz die ebenfalls das Potenzial haben, nachhaltig etwas zu verändern.

WIRED: Im Bund setzen ja gerade alle möglichen Leute alle möglichen Hoffnungen auf Martin Schulz. Du aus netzpolitischer Sicht auch?
Beckedahl: Ich habe die Arbeit von Martin Schulz als Präsident des Europäischen Parlaments und sein Abstimmungsverhalten jahrelang verfolgt. Seine Sozen haben auch durch ihn bei vielen netzpolitischen Themen eine Große-Koalitions-Linie gefahren. Und Große Koalitionen – das hat die aktuelle wieder bewiesen – sind aus Grundrechtssicht nie gut, weil sie sich immer auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen müssen und im Zweifel eben Grundrechte abgeschliffen werden, wenn das Korrektiv fehlt.

Die re:publica ist immer noch ein Ort, wo Menschen vor allen Dingen hinkommen, um Spaß zu haben

Markus Beckedahl

WIRED: Immerhin hat Schulz bei der Digitalcharta mitgemacht, die genau das einfordert, was du gefährdet siehst: digitale Grundrechte.
Beckedahl: Damit hat er zumindest etwas mehr Interesse an Diskussionen über Grundrechte im digitalen Zeitalter gezeigt als viele andere Politiker. Aber seit er Spitzenkandidat ist, hat er bisher noch überhaupt nichts zu diesem Thema gesagt. Immerhin gibt es Landeskoalitionen, die zumindest einen Einblick geben, wie linke Mehrheiten zu einer anderen Netzpolitik führen können. Dass möglicherweise eine rot-rot-grüne oder rot-gelb-grüne Regierung auch im Bund für eine bessere, grundrechtsfreundlichere Netzpolitik stehen könnte. Aber aktuell gibt es dafür ja noch keine Mehrheiten.

WIRED: Wenig Hoffnung also auf parteipolitischer Ebene. Die re:publica ist immer auch eine Konferenz für Leute gewesen, die das Thema eher aus einer aktivistischen Bottom-up-Perspektive angehen. Welche Rolle spielt sie im Jahr 2017 noch für die deutsche Netzpolitik?
Beckedahl: Ich glaube, es gibt keinen anderen Ort, wo in drei Tagen so viele netzpolitische Fragestellungen und damit auch Fragestellungen einer sich entwickelnden digitalen Gesellschaft diskutiert werden – und zwar von so vielen unterschiedlichen Akteuren gleichzeitig, dass eine gewisse Relevanz entsteht. Trotzdem ist die re:publica immer noch ein Ort, wo Menschen vor allen Dingen hinkommen, um Spaß zu haben. Wir haben es geschafft, einerseits diesen Ort zum Spaßhaben, andererseits aber auch zum Diskutieren und Sich-Weiterbilden zu schaffen und alles miteinander zu verknüpfen. Insofern ist die re:publica auch ein Ort, wo sehr viele Menschen motiviert werden, gesellschaftlich aktiv zu werden. 

WIRED: Die Konferenz ist in den vergangenen zehn Jahren extrem gewachsen und thematisch immer vielfältiger geworden. Geht dadurch die politische Schlagkraft, wenn man bestimmte Themen forcieren möchte, nicht ein wenig verloren?
Beckedahl: Das glaube ich nicht. Im Gegenteil: Die re:publica ist tatsächlich von Jahr zu Jahr größer und vielseitiger geworden – und damit sicherlich auch relevanter. Bisher dachten viele, monothematische Veranstaltungen, wo immer nur dieselben Leute hinkommen, haben die größere Relevanz. Wir haben bewiesen, dass es auch anders geht. Auf der re:publica diskutieren Forscher, Politikerinnen, Aktivisten, Unternehmerinnen, Journalisten oder einfach nur Netzmenschen zusammen – und auf Augenhöhe.

WIRED ist Medienpartner der re:publica 2017 und berichtet hier vom 8. bis 10. Mai live von der Konferenz in Berlin.

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