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Ein Friedhof für die Toten aus dem Mittelmeer

von Max Biederbeck
Für Alexander Lehman ist es der erste Friedhof. Eigentlich ist der 30-Jährige auf Animationsfilme spezialisiert und arbeitet als freiberuflicher Regisseur. Aber nun ging es darum, den Tod zu zeigen. Lehmans Ideen sind einer der Höhepunkte eines Projekts, das in den vergangenen Tagen für Schlagzeilen gesorgt hat: Die Aktionsgruppe „Zentrum für Politische Schönheit“ hat sich entschlossen, die vergessenen Toten aus dem Mittelmeer nach Deutschland zu tragen.

Vor den Augen der Öffentlichkeit wollen die Aktivisten zeigen, was viele gerne verdrängen: Europas menschenfeindliche Grenzpolitik fordert jeden Tag mehr unschuldige Opfer. Sie sollen hier ein anständiges Begräbnis bekommen. Auch Lehman will aufrütteln — und ist deshalb zum Designer für die letzte Ruhestätte der Mittelmeer-Toten geworden. Am Sonntag soll der Spatenstich erfolgen, direkt auf dem Innenhof des Bundeskanzleramts.

„Ich habe mich schon vor Beginn der Aktion der Politischen Schönheit in Ruhe auf dem Platz umgesehen“, sagt Lehman. Als Erstes sei ihm der ausufernde Zaun um das Gelände aufgefallen und eine zweite großräumige Absperrung. Als er einen Polizisten darauf ansprach, erklärte der ihm, es handele sich um eine „Bannmeile“. Sie sollte den Besuch des britischen Premierministers David Cameron schützen. Lehman blieb vor allem an dem Begriff hängen. „Ich fand das Wort Bannmeile absurd und wie man sich da einmauert“, erinnert er sich. „Der Zaun am Kanzleramt erinnert mich an den Zaun, der auch die Flüchtlinge draußen hält.“ Er machte viele Fotos, entschied innerlich: Wenn hier ein Friedhof hin soll, muss auch der Zaun seine Bedeutung verändern.

Eine politische Karikatur auf das geheuchelte Mitgefühl

Sein Design zeigt rund 1000 Gräber, die auf dem Platz des Kanzleramts angeordnet sind. Jedes 2,20 Meter mal 1,40 Meter groß. „Ursprünglich wollte ich sie in Form des Mittelmeers anordnen, aber das hätte nicht gut gepasst“, sagt Lehman. Stattdessen entschied er sich für einen klassischen Aufbau: Saubere parallele Ordnung, zwei große Bögen, die sich über dem Platz kreuzen. Auf dem einen prangen groß die Worte „Den unbekannten Einwanderern“ auf dem anderen am Eingangstor „Die Flüchtenden werden einst wir sein“. Alles erinnert an einen stilvollen alten Friedhof, „geradezu konservativ“, wie Lehman sagt. Das ist auch der Hintergedanke.

Als die ersten Meldungen von massenhaften Toten durch gekenterte Schiffe im Mittelmeer auftauchten, las Lehman zahlreiche bestürzte Politiker-Stellungnahmen. „Von tiefer Trauer war da die Rede, aber passiert ist nichts.“ Deswegen wollte er zusammen mit dem Zentrum für Politische Schönheit genau diese angeblich empfundene Trauer zurücktragen — direkt vor den Arbeitsplatz der Kanzlerin und mithilfe eines klassischen würdevollen Friedhofs. Er ist eine politische Karikatur auf das geheuchelte Mitgefühl der europäischen Würdenträger.

Mit Architektur gesellschaftliche Probleme sichtbar zu machen, ist einer der Grundsätze des Zentrums für Politischen Schönheit. Die Gruppe hat damit in der Vergangenheit immer wieder Themen in die Öffentlichkeit gerückt. Etwa als sie plante, einen Sarkophag aus Beton über die Zentrale des Waffenherstellers Heckler & Koch zu stülpen. „Dies ist kein Scherz: Die Katastrophe kann dauerhaft nur architektonisch, nicht politisch verwaltet werden“, hieß damals der Slogan. Bei einer jüngeren Aktion stahlen Aktivisten zum 25-jährigen Jubiläum des Mauerfalls Gedenk-Kreuze und stellten sie stattdessen an den Grenzen Euopas auf — an den Sperranlagen in Bulgarien oder Griechenland.

„Die Toten kommen“ ist die bisher größte Medienaktion des Zentrums. Mit einer eigenen Indiegogo-Kampagne sammelte die Organisation Spenden, um die Toten überführen zu können und in Kontakt mit den Angehörigen zu treten. Knapp 50.000 Euro kamen bisher zustande. „Das Recht der Angehörigen auf Totenfürsorge besitzt in Deutschland Verfassungsrang. Angehörige nicht zu ermitteln und ihnen damit die Möglichkeit zu nehmen, bei der Bestattung ihrer Liebsten anwesend zu sein, ist ein Verbrechen an der Menschheit“, schreibt Cesy Leonard vom Zentrum.

In dieser Woche werden immer wieder Tote in Berlin zu Grabe getragen (zum Beispiel heute Mittag gegen 12 Uhr). Der Spatenstich ist das Finale der Aktion und wird von einem „Marsch der Entschlossenen“ unterstützt. Auch einen Bagger wollen die Demonstranten mitbringen. Ob es wirklich zum Ausheben von Gräbern kommt, ist natürlich unklar. Auf die Frage nach der Realisierbarkeit wiederholt sich Lehman: „Europa ist in tiefer Trauer? Wir werden ja sehen.“ 

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