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Gedankenspiele: Wie Games uns zu kreativen Revolutionären machen können

von Oliver Klatt
Videospiele machen glücklich, wütend und süchtig. Wie aber verändern sie unser Denken? Und was bedeutet es für unser Gehirn, wenn wir uns im digitalen Jenseits stundenlang auf die Suche nach Abenteuern begeben?

Videospiele seien nichts als ein unbekümmerter Zeitvertreib, sagen viele, ein harmloses Vergnügen. Das ist Unsinn. Jeder, der sich schon einmal dem Sog eines Spiels hingegeben hat, weiß: Sie sind noch viel mehr. Videospiele laden ein in ein Universum unendlicher Möglichkeiten. Sie schaffen und bedienen Leidenschaften. Und ja, sie können süchtig machen. Das liegt zum einen an den unruhig schlummernden Instinkten, die sie wecken können. Und an den Emotionen, die sie hervorrufen. Überschäumende Euphorie, wenn der Highscore geknackt, das Fußballturnier gewonnen oder die Weltraumschlacht erfolgreich geschlagen wurde. Untröstliche Niedergeschlagenheit oder – je nach Charakter – auch rasende Wut, falls das nicht gelungen is. Es sind vor allem die sportlichen Aspekte an Videospielen, die verantwortlich sind für die stärksten Reaktionen.

Wir ewarten, dass Videospiele uns etwas empfinden lassen. Sonst wären sie langweilig.

Douglas Gentile, Entwicklungspsychologe

Videospiele können uns sogar zum Weinen bringen. Zumindest in den Zwischensequenzen haben sie längst die selbe Kraft wie etwa ein Zeichentrickfilm. Schlüsselszenen aus „Final Fantasy VII“, „Shadow Of The Colossus“ oder „The Last Of Us“ haben Tausende zu Tränen gerührt. Die emotionale Wucht dieser Games hallt in den Herzen vieler Spieler bis heute nach. Und das ist gut so. „Wir erwarten von Videospielen, dass sie einen Effekt auf uns haben“, sagt der Entwicklungspsychologe Douglas Gentile vom Media Research Lab der Universität Iowa. „Wir wollen, dass sie uns etwas empfinden lassen. Sonst wären sie langweilig.“

Was aber passiert beim Spielen mit unserem Verstand? Auf welche Gedanken bringt uns das Herumturnen in ausufernden Scheinwelten? Welche Weltsicht und welches Selbstbild begünstigen Games? Das hänge von vielen Faktoren ab, sagt Gentile. Seit einem Vierteljahrhundert untersucht der Psychologe, welche Auswirkungen Medien auf den Menschen haben. Und er hat starke Hinweise auf etwas gefunden, woran viele immer noch zweifeln: Videospiele, die Gewalt simulieren, können ein aggressiveres Verhalten im Alltag nach sich ziehen. Games, die über eine starke soziale Komponente verfügen, führen wiederum oft dazu, dass Spieler mehr Rücksicht auf ihre Mitmenschen nehmen. Doch so einfach, wie es gern dargestellt wird, ist die Sache nicht, viele Fragen sind nach wie vor offen. „Es könnte sein, dass Online-Mutliplayer-Games mit gewalttätigem Inhalt weniger die Aggressivität, sondern eher das Sozialverhalten fördern, da in ihnen Teamwork gefragt ist“, sagt Gentile. „Darüber wissen wir aber noch sehr wenig.“

Games treiben uns zur Perfektion, indem sie uns die gleichen Handlungen wieder und wieder ausführen lassen.

Kein Zweifel besteht für den Wissenschaftler jedoch daran: Videospiele sind hervorragende Trainiermaschinen. Sie treiben uns zur Perfektion, indem sie uns die gleichen Handlungen wieder und wieder ausführen lassen und dabei den Schwierigkeitsgrad beständig erhöhen. Sie fördern und honorieren bestimmte Sicht- und Verhaltensweisen und bestrafen andere. Ein Puzzle-Game wie „Professor Layton“, das logisches Denken erfordert, macht uns besser im Analysieren von Problemen. Ein First-Person-Shooter wie „Call Of Duty“, der blitzschnelles Reagieren belohnt, stärkt unser Reaktionsvermögen. Spielen bedeutet also immer auch Lernen. 

„Menschen erzählen mir gern, dass ein Spiel keinen Einfluss auf sie habe, da es ja nur ein Spiel sei. Aber da liegen sie falsch“, sagt Gentile. „Selbstverständlich erkennen wir den Unterschied zwischen Schein und Sein. Aber genauso selbstverständlich nehmen wir unser mathematisches Wissen aus der Schule mit in die Welt – etwa beim Einkaufen. Das macht uns Menschen so großartig. Wir sind in der Lage, Fähigkeiten, die wir in einem bestimmten Kontext erlernt haben, in jedem anderen Zusammenhang anzuwenden.“ Obwohl sich die handelsüblichen Spielwelten von der realen Welt unterschieden, sei es ganz natürlich, dass wir gewisse Denkmuster aus einem Videospiel auf die Wirklichkeit übertragen. Das US-Militär macht sich das beispielsweise zunutze, indem es den kostenlosen First-Person-Shooter „America’s Army“ unter Jugendlichen verteilt, um sie fürs Militär zu begeistern. Und die Terrororganisation IS verwendet in Propagandavideos Szenen aus „Grand Theft Auto V“, um Nachwuchs zu rekrutieren. „Du willst das hier in echt erleben?“, lautet die Botschaft in beiden Fällen. „Dann komm zu uns!“

Videospiele geben uns ein Vokabular an die Hand, mit dem sich die Welt hacken lässt.

Miguel Sicart, Philosoph und Videospielforscher

Würden wir Spiele immer nur im Sinne ihrer Erfinder spielen, würden sie uns – abhängig von unseren Vorlieben – also zu besseren Soldaten, Chirurgen oder Mathematiklehrern machen. Was aber passiert, wenn wir ein Spiel gegen seine Regeln spielen? Jeder Gamer kennt den Impuls: Wenn ein Videospiel einem vorschreiben will, dass man nach Norden gehen soll, macht man sich stattdessen lieber auf den Weg nach Süden. Nur um zu sehen, was passiert. Häufig läuft man dann gegen eine Wand. Hin und wieder gibt es aber auch Abkürzungen zu entdecken, verborgene Schätze oder sogar ein Schlupfloch in der Levelarchitektur, das einen verbotenen Blick hinter die Kulissen der Spielwelt erlaubt. Im Internet kann man in unzähligen Videos sehen, wie durch reine Neugier entdeckte Glitches und Cheats das Spielerlebnis verändern: Illusionistische Landschaften verlieren an Glaubwürdigkeit, virtuelle Reichtümer werden angehäuft und ganze Level in wenigen Sekunden durchgespielt.

Games tragen die Verlockung zum Regelbruch jederzeit in sich. Obwohl sie uns Welten vorsetzen, die durch ein enges Korsett aus Spielregeln in Form gehalten werden, fühlen wir uns in ihnen oftmals freier als im durch Normen und Naturgesetze determinierten Alltag. Ein ständiges „Was wäre wenn?“ begleitet uns auf Schritt und Tritt. Der Philosoph und Videospielforscher Miguel Sicart vom Center Of Computer Games Research in Kopenhagen sieht genau darin das größtes Potential von Games. Nach seiner Auffassung kann das Spielen unser Denken fundamental verändern. In seinem Buch „Play Matters“, einem leidenschaftlichen Traktat für ein verspielteres Leben, bescheinigt er dem Spielen sogar revolutionäres Potenzial: „Wir können von Videospielen lernen, dass wir Systemen nicht gehorchen müssen, sondern dass wir sie auf kreative Weise manipulieren und zu den unseren machen können“, sagt er, „Videospiele sind in der Lage, unser Selbstbewusstsein im Umgang mit Systemen zu stärken. Sie geben uns ein Vokabular an die Hand, mit dem sich die Welt hacken lässt.“ 

Wo andere nur Mauern sehen, sieht der spielende Mensch Möglichkeiten – sie zu bekritzeln, zu erklimmen oder einzureißen.

Genau so, wie wir durch Games gut darin würden, unserer Umwelt reaktionsschnell oder problemorientiert zu begegnen, sagt Sicart, könnten wir durch sie auch lernen, nach Rissen in ihr zu suchen, nach Gelegenheiten zum Schabernack und Schummeln. Spielen bedeutet für ihn, sich von Gewohnheiten freizumachen. Die Welt als Spielplatz wahrzunehmen und nicht als Arbeitsplatz. Produktivität nicht an Gewinnmaximierung festzumachen, sondern an Gestaltungswille und Spielfreude. Folgt man Sicarts Argumentation, sind Videospiele mehr als ein Ablenkungsmanöver. Sie nehmen unseren Geist mit auf Reisen in fantastische Welten. An Orte, an denen – zumindest in der Theorie – alles möglich ist. „Wer viel spielt“, sagt er, „macht sich eine spielerische Weltsicht zu eigen.“ Wo andere nur Mauern sehen, sieht der spielende Mensch Möglichkeiten – sie zu bekritzeln, zu erklimmen oder einzureißen.

Ganze Generationen, für die Videospiele zum wichtigsten Freizeitmedium geworden sind, wissen heute, dass Aktivität mehr Spaß bereitet als bloßes Sich-Berieseln-Lassen. Sind Nintendo, Sony und Microsoft also dabei, eine Riege von Aktionskünstlern und Widerstandskämpfern heranzuzüchten? Eher nicht, den meisten Videospielern scheint das Agieren im virtuellen Raum und ein reales Dasein auf der Couch vollkommen auszureichen. Doch Sicart will das nicht gelten lassen. Bei den Protestbewegungen der jüngsten Zeit, sowohl im digitalen als auch im physischen Raum, sieht er einen starken Einfluss von Games. „Die Aktionen von Anonymous gegen Scientology und andere Ziele haben beispielsweise etwa sehr Spielerisches, das an den kreativen Umgang von Gamern mit dem Regelwerk eines Videospiels erinnert“, sagt der Philosoph. „In dieser Form von Hacktivism geht es immer auch darum, Spaß mit bestehenden Regeln zu haben und sich über die Welt, wie sie ist, lustig zu machen.“

Auch in der Aneignung urbaner Landschaften – etwa beim Skaten oder beim waghalsigen Freestyle-Parkour über Hausdächer – zeigen sich nach Sicarts Meinung Spuren des Spiels. „Das Open-World-Game ,Infamous‘ ist ein Beispiel dafür, wie die Umdeutung der Stadtarchitektur als Klettergerüst zunächst das Gameplay eines Spiels inspiriert hat – und nun seinerseits Gamer motiviert, sich mit Parkour zu beschäftigen“, sagt er. Videospiele pflanzen Ideen in Gehirne. Aus Straßen werden Rennstrecken wie in „Grand Theft Auto V“. Aus dem Häusermeer wird ein Hindernisparcours wie in „Infamous: Second Son“. Aus der Welt wird ein Baukasten randvoll mit Möglichkeiten wie in „Minecraft“. Und als Passant kann man gar nicht anders, als sich wie eine unbedeutende Nebenfigur eines Videospiels vorzukommen, während man sich an Skatern vorbei drückt, die eine triste Fußgängerunterführung in etwas viel Aufregenderes verwandelt haben. 

Edward Snowden hat aus Videospielen gelernt, dass ein einzelner Mensch, sei er noch so machtlos, großes Unrecht aus der Welt schaffen kann.

Glenn Greenwald, Journalist

Nicht nur die Sichtweise unserer Umwelt können Videospiele beeinflussen, sondern auch den Blick auf das eigene Ich. Nach Auffassung Sicarts sind sie sogar prädestiniert dafür. „Wir sind nicht immer die selbe Person, wenn wir ein Videospiel spielen“, sagt er. „In Games können wir in andere Rollen schlüpfen und die Welt aus ihrem Blickwinkel betrachten. Dadurch erfahren wir etwas über uns selbst – und kehren mit neuem Wissen aus dem Spiel zurück.“ Die Forschungsergebnisse von Dr. Gentile scheinen das zu bestätigen. „Das Anprobieren von Identitäten ist besonders für junge Menschen wichtig, die sich mit der Frage beschäftigen, wer sie sein wollen,“ sagt Gentile. „Im Spiel können sie Astronauten, Wissenschaftler oder Kriminelle sein. Bevor es Videospiele gab, war das in dieser Qualität nicht möglich.“

Das bisher folgenreichste Beispiel dieser Wechselwirkung zwischen Gamer und Game: Whistleblower Edward Snowden. In seinem Buch „Die Globale Überwachung“ schreibt der Journalist Glenn Greenwald, dass Snowden auch von Videospielen inspiriert worden sei, da er von ihnen gelernt habe, „dass ein einzelner Mensch, selbst wenn er noch so machtlos ist, ein großes Unrecht aus der Welt schaffen kann.“ Snowden selbst wird mit den Worten zitiert: „Der Protagonist ist häufig ein ganz normaler Mensch, der sich durch starke Mächte mit großer Ungerechtigkeit konfrontiert sieht und vor der Wahl steht, entweder aus Angst zu flüchten oder für seine Überzeugungen zu kämpfen.“

„Videospiele sind Experimente in Ethik“, sagt Sicart. Im Unterschied zu Büchern und Filmen verlangen Videospiele von uns, dass wir moralisch Stellung beziehen – und darauf Taten folgen lassen. Etwa, wenn wir über Leben und Tod einer Spielfigur entscheiden sollen. Sonst käme das Spiel zum Stillstand. Die Gefühle, die Videospiele vermitteln, und die Gedanken, auf die sie uns bringen, verfügen deshalb über so viel Kraft, weil sie immer mit unserem eigenen Tun verknüpft sind. Obwohl sie auch wunderbar zur Weltflucht taugen, können Videospiele genau wegen dieser Notwendigkeit zum Handeln viel näher an der Welt sein als andere Medien. Das Spielen, schreibt Sicart in seinem Buch „Play Matters“, sei ein produktiver Akt und kein Akt des Konsums – „ein Zustand des Werdens, des Lernens und zugleich Ausdruck des eigenen Selbst.“ 

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