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OKStupid / Was tun, wenn auf Tinder ein bekanntes Gesicht auftaucht?

von Georg Gross
Auf Dating-Plattformen geht man eigentlich, um fremde Menschen zu treffen. Doch irgendwann taucht beim Swipen unweigerlich ein Gesicht auf, das man kennt. Und was macht man dann? Eine Kurzgeschichte.

Ich saß im Wartezimmer meines Zahnarztes, als mir das Herz in die Hose rutschte. Also im herkömmlichen Sinne dieser metaphorischen Sprachwendung und nicht so buchstäblich, wie man es beim Thema Online-Dating meinen könnte, nämlich irgendwie obszön. Ich war ernsthaft geschockt: Beim Swipen durch Tinder war mit einem Mal das Foto einer Frau aufgepoppt, die ich seit Jahren kannte. Die Angst vor der bevorstehenden Zahn-OP, die wirklich nicht angenehm zu werden drohte, wurde schlagartig durch eine andere Angst ersetzt: Hatte die Frau mich umgekehrt auch schon auf Tinder gesehen? Wenn ja, was dachte sie jetzt von mir? Hatte sie dann nach womöglich rechts gewischt — oder nach links? Und wohin sollte ich nun bitte wischen?

Zunächst mal machte ich Tinder ganz schnell wieder zu und versuchte, mich auf die Angst vor dem herankreischenden Bohrer zu konzentrieren. Den Zahnarzt hier hatte ich nicht nur wegen seiner supermodernen Geräte ausgewählt und dem angenehmen Eindruck von Kompetenz, die der Mann ausstrahlte. Sondern auch, weil in seinem Wartezimmer keines dieser von Sprechstundenhilfen am Praxis-PC selbstentworfenen Handy-Verbotsschilder hing. Dieser Zahnarzt hier dachte fortschrittlich, er wusste, was seine Patienten von ihm erwarteten, ein offenes WLAN zum Beispiel. Nur wenn einer mal ernsthaft zu telefonieren versuchte, wurde er oder sie von der Sprechstundenhilfe mit einem bösen Blick ermahnt: Quiet, please. Surfen ist im Wartezimmer erlaubt, laut geführte Telefongespräche sind es nicht. Diese Praxis war also eine Art Coworking-Space, mit angeschlossenem Unwellness-Bereich für Zahnbehandlungen.

Ich machte Tinder vorsichtig wieder auf und dachte: Was zur Hölle machte diese Frau da? Sie war erstens so attraktiv, dass sie sich im Zweifel schon im realen Leben permanent gegen lästige Anmachen wehren musste. Immerhin machte ihre App-Wahl deshalb Sinn, erst mal unerreichbar auf Tinder zu sein statt von jedem dahergeklickten Typen anschreibbar auf OkCupid. „Hey, Süße“ und so. Zweitens aber war diese Frau, nach allem was ich wusste, in einer Beziehung. Doch da musste ich mich auf Informationen aus der ferneren Gerüchteküche verlassen, ich war nicht wirklich mit der Frau befreundet, wir waren nur mal Kollegen gewesen. Heute waren wir typische Facebook-Freunde: Wir kannten uns, sahen uns selten, dann aber nur zufällig. Denn verabredet hatten und hätten wir uns niemals. Ich konnte ihr jetzt also auch nicht einfach eine nette Facebook-Nachricht schreiben, wie ich das bei einer echt guten Freundin getan hätte, mit dem ungefähren Inhalt: „Lustig, dich auf Tinder zu sehen — keine Sorge, ich sag's keinem weiter.“

Was für ein Licht warf das auf mich? War ich gar nicht so aufgeklärt und fortschrittlich, wie ich gern sein wollte?

48 gemeinsame Facebook-Freunde zeigte Tinder mir an. Die Frau hatte außerdem ihr Instagram-Profil verlinkt, die darauf befindlichen Fotos kannte ich eh schon alle, denn natürlich folgten wir uns auch völlig unverbindlich auf Instagram. Sie hatte haufenweise Follower, so wie sie auch haufenweise Facebook-Freunde hatte. Sie war populär. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr außer mir auf Tinder noch sehr viele andere Männer begegneten, die sie vor allem von Facebook oder Instagram kannten, war demnach hoch. Die Frau stellte sich regelrecht vor ihrem halben Bekanntenkreis ins Dating-Fenster. Wieso tat sie das? Andererseits machte ich, bloß mit erheblich weniger Followern, umgekehrt ja das gleiche. Nur straften mich als Mann und zudem Single die hartnäckigen heterosexuellen Geschlechterklischees im Zweifel noch immer nicht so hart wie sie als Frau. Diese Stereotype besagten unter anderem, dass Frauen nicht zu aktiv ihr Beziehungsglück suchen durften. Oder hatte ich, dachte ich nun, während ich die Tinder-Fotos der Frau durchklickte, etwa ein Problem damit, dass eine Frau ihre Bedürfnisse selbstbewusst und nahezu öffentlich zeigt? Was für ein Licht warf das auf mich? War ich gar nicht so aufgeklärt und fortschrittlich, wie ich gern sein wollte?

Ich betrachtete eines der Fotos, auf der die Frau ganz besonders gut aussah, und versuchte mich zu erinnern, ob ich sie auch damals, als wir noch Kollegen gewesen waren, schon attraktiv gefunden hatte. Attraktiv genug jedenfalls, dass ich mir einen Flirt am Arbeitsplatz mit ihr vielleicht nur deshalb verboten hätte, weil so was ja eigentlich nur Ärger bedeutet. Die erzwungene Heimlichtuerei, die möglichen Peinlichkeiten und gar arbeitsrechtlichen Konsequenzen, die damit verbunden sind, wenn rauskommt: Da arbeiten zwei Leute nicht nur zusammen, sondern sind auch ein Paar. Nein, so gut hatte ich die Frau damals nicht gefunden, dass ich das alles riskiert hätte. Oder, fast schlimmer noch: dass ich riskiert hätte, dass sie mich nicht gut gefunden und zurückgewiesen hätte.

Wäre es nicht das allerpeinlichste und bescheuertste, wenn wir uns nach all den Jahren Bekanntschaft nun ernsthaft über Tinder verabreden?

Was aber war jetzt, auf Tinder? Rechts oder links? Wäre es nicht das allerpeinlichste und bescheuertste, dachte ich, wenn wir uns nach all den Jahren Bekanntschaft nun ernsthaft über Tinder zu einem Date verabreden würden? Was hätten wir uns denn zu sagen, was wir uns nicht schon zigmal hätten sagen können bei den vielen Malen, die wir uns zufällig über den Weg gelaufen sind, in Bars, auf Partys, auf der Straße? Brauchten wir wirklich Tinder und damit die eindeutige Aussage „Ja, ich bin auf der Suche“, um uns mal über uns beide zu unterhalten? Warum sollte es aber überhaupt ein „uns beide“ geben — außer deshalb, weil wir bei einem Date nicht groß Smalltalk machen müssten? Schließlich wussten wir ja als Ex-Kollegen schon alles Smalltalk-Fähige übereinander, Berufliches und so. Würden wir uns treffen und dann gleich zur Sache kommen: „Zu dir oder zu mir?“

„Herr Gross in Behandlungszimmer Drei, Herr Gross, bitte!“ Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch, blickte von meinem Smartphone hinüber zur Sprechstundenhilfe, die gerade meinen Namen aufgerufen hatte, und sagte: „Sofort, nur einen Moment, bitte.“

Dann wischte ich nach links. 

Diese Kolumne wird wöchentlich von mehreren AutorInnen unter Pseudonym verfasst. Alle Folgen findet ihr hier. 

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