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Diese Musik-App aus Berlin macht euer Smartphone zum Komponisten

von Karsten Lemm
Was die Sensoren des Smartphones wahrnehmen, verwandelt die App des Berliner Startups Aitokaiku in Musik. Verrückte Idee? Facebook gefällt’s: Das Social Network nimmt den digitalen Komponisten offiziell ins Programm.

Wie musikalisch ist eine Fahrradfahrt durch die Stadt? Wie harmonisch klingt ein Frühlingsabend auf dem Balkon? Die Antwort wird bald aus etlichen Handys tönen, komponiert von smarter Software. Jeden Lichtstrahl in der Umgebung, jedes Geräusch, jeden Schritt und Tritt — ganz allgemein: was die Sensoren auffangen — verwandeln die Algorithmen in Live-Kompositionen des jeweiligen Augenblicks. „Der Gedanke ist: Man startet die App, und alles, was man unternimmt, wird zu Musik“, erklärt Jarno Eerola, ein in Berlin lebender Finne, der die Technik dafür entwickelt hat. Sein Service Aitokaiku wird jetzt in Facebook integriert: Das soziale Netzwerk hat den digitalen Alltagskomponisten für sein jüngst gestartetes „Music Stories“-Programm auserwählt.

Bisher konnten Facebook-Fans damit ausschließlich kommerzielle Musik teilen – 30 Sekunden hier oder da, die ihnen bei Diensten wie Spotify, Deezer oder Apple Music aufgefallen waren. Künftig könnten sich auch immer mehr Clips unter die Nachrichten im Facebook-Stream mischen, die das Leben der Nutzer komponiert hat. „Leute werden nicht mehr nur Text und Bilder, sondern auch den Sound des Augenblicks mit anderen teilen wollen“, sagt Eerola voraus. Aito heißt auf Finnisch „authentisch, echt“, und Kaiku bedeutet „Echo“: das wahre Leben also, verwandelt in eine Tongalerie.

Wie das Ergebnis klingt, können Nutzer auf verschiedene Arten beeinflussen: Die App verwandelt Rütteln, Schütteln und Schwenken des Handys ebenso in Musik wie Lichtschwankungen oder Veränderungen der Geräuschkulisse im Hintergrund, die das Mikrofon auffängt. Ob daraus atmosphärische New-Age-Sounds werden oder eher traditionelle Klänge, lasse sich wählen, verspricht Eerola. Fürs Erste biete die Aitokaiku-App die Einstellungen Klassik und Electronica, dazu noch zwei Ambient-Themen, die auf Eerolas Arbeit für die finnische Tourismusagentur basieren.

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Weitgehend unbemerkt vom Mainstream hat der gelernte Musiker und Programmierer seit Jahren mit seiner Software experimentiert — hier ein Konzert, bei dem Zuschauer durch Tanzen zur Live-Komposition beitragen; dort eine Technikkonferenz, die mit Hilfe von Aitokaiku zu einem besonderen Theme Song kam. Eerola selbst, 2008 nach Deutschland gezogen, nutzte sein Leben in Berlin als Basis für ein komplettes Album rund um Alltagsklänge mit musikalischen Ambitionen. Auch die Daten der gerade nachgewiesenen Gravitationswellen aus dem Universum verfütterte er an den Aitokaiku-Soundprozessor, um daraus einen sechs Minuten langen Soundteppich zu stricken.

Die Facebook-Kooperation entlässt das Experiment nun hinaus in die Welt. Was die Menschen damit anstellen? Man wird hören. „Das Smartphone errechnet die Musik“, erklärt Laurent Martin, Marketingchef des Vier-Mann-Startups, und jede Komposition, von unwiederbringlichen Momenten inspiriert, sei einzigartig. „Es ist unmöglich, diesen Cocktail aus Sensordaten nachzubilden.“ Teilen ist ausnahmsweise ohne Einschränkungen erlaubt, weil weder GEMA noch Plattenstudios an diesem Tonprojekt teilhaben. „Die Rechte liegen beim Nutzer.“

Bei aller Begeisterung für ihre Software sehen sich die Aitokaiku-Macher nicht als Konkurrenz zu Beyoncé und Lukas Graham. „Unsere Technik nimmt nichts weg“, argumentiert Martin. „Wir geben etwas dazu.“ Alltagsklänge aus dem Smartphone per Facebook zu teilen, das sei so ähnlich wie mit den Fotos auf Instagram: „Wir sind nicht alle tolle Fotografen geworden“, sagt Martin, „aber wir können teilen, was wir machen. Aitokaiku demokratisiert die Musik.“

Dass Algorithmen angenehme Klänge produzieren können, ist nicht überraschend. Einer der Pioniere der elektronischen Komposition, David Cope, entlockt Computern seit Jahrzehnten ganze Symphonien. Da sich in Musik und Rhythmen reichlich Mathematik verbirgt, bringen Rechenmaschinen viel Talent mit. Neu ist vor allem die Verarbeitung von Sensor-Informationen, die automatisch erzeugte Musik mit Elementen aus Zeit und Raum anreichern. „Man kann Musik machen, ohne sich aktiv darum kümmern zu müssen“, sagt Eerola und erzählt vom Herumschlendern mit Aitokaiku im Ohr oder spontanen Klangsessions, bei denen sein Foxterrier Julian den Input gibt, indem er zu Hause durch die Stube jagt. „Ich liebe Musik“, sagt der schmale, vollbärtige 40-Jährige, der als DJ seit 25 Jahren Platten auflegt. „Aber ich bin auch gern mit Freunden zusammen oder mit meinem Hund unterwegs.“ Und dabei soll die Musik dann automatisch im Hintergrund entstehen.

Die Sensordaten werden niemals übermittelt.

Laurent Martin

Das Mithören von Alltagssituationen, versichert derweil der Marketingchef, sei ganz unbedenklich: „Die Sensordaten werden niemals übermittelt“, sagt Laurent Martin. Es gebe auch keine Möglichkeit, aus der Musik wieder die ursprünglichen Informationen herauszurechnen. Geld verdienen will das Berliner Startup mit kommerziellen Partnerschaften: So liefen Gespräche mit dem norwegischen Mobilfunkanbieter Telenor, berichtet Eerola, und Gaststätten, Hotels und Einkaufszentren könnten Interesse haben, ihre Geräuschkulisse mit Hilfe von Aitokaiku in Wohlklang für die Ohren zu verwandeln — zumal dann keine Lizenzgebühren für kommerzielle Musik mehr anfielen. „Ein Hotel mit reaktiver Musik“, sagt Eerola, „kann sicher sein, dass es als cool gilt.“

Prominenten könnte Aitokaiku neue Wege bieten, ihre Fans zu unterhalten, spekuliert der Erfinder: „Paris Hilton kann einfach zum Schuhe-Einkaufen gehen, und die Leute werden es sich anhören.“ Erstmal freilich müsste sie von Aitokaiku wissen — und am Ende könnten es ganz andere sein, die das Beste aus dem neuen Digitalmusikanten machen. „Es wird zufällige Meisterwerke geben“, sagt Martin, „und vielleicht ist es ein Teenager aus Korea oder Brasilien, der uns zeigt, wo das wahre Potenzial von Aitokaiku liegt.“

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