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Im Jahr 2029 werden wir ein bedingungsloses Grundeinkommen aber keinen Feierabend mehr haben

von Inga Höltmann
Die zunehmende Digitalisierung und neue Technologien wie VR-Brillen, 3D-Druck und Roboter werden unsere Arbeitswelt in den nächsten zehn Jahren stark verändern. Statt nach einer Work Life Balance zu streben werden wir dann ein Work Life Blending erleben – die Verschmelzung von Privat- und Arbeitsleben. Für unser WIRED2029-Special erklärt die New-Work-Expertin Inga Höltmann, warum unsere Arbeit dann zwar nicht mehr körperlich anstrengend, dafür aber mental immer präsent sein wird – und wie wir uns dafür rüsten können.

Die erste Revolution unserer Arbeit hat die Handarbeit ersetzt: Zuerst kam die Dampfmaschine, dann das Fließband, elektrischer Strom wurde überall verfügbar. Die zweite große Revolution, die wir jetzt gerade erleben, wird unsere Intelligenz zuerst unterstützen und später vielleicht ersetzen – mithilfe von Künstlicher Intelligenz, Machine Learning und Algorithmen.

Die Arbeit wird uns trotzdem nicht ausgehen. Aber sie wird sich radikal wandeln – und wir sind schon mittendrin. Unsere Arbeit wird sich zunehmend anders verteilen. Einfache, repetitive Tätigkeiten werden mehr und mehr automatisiert, das sehen wir ja auch heute schon. In Produktionsstätten werden Roboter sie übernehmen, in anderen Bereichen - wie der Sachbearbeitung im Büro - werden sie umso seltener von Menschen erledigt werden, je ausgefeilter die Künstliche Intelligenz wird und je mehr sich ihre Anwendungsbereiche ausdifferenzieren. Unsere Aufgaben hingegen werden zunehmend die sein, die Kreativität und Empathie erfordern.

In der Industrie werkeln die Arbeiter schon heute Seite an Seite mit Robotern. Und das wird weiterhin zunehmen. Im kommenden Jahrzehnt wird sich außerdem besonders Virtual-Reality-Technologie dort verbreiten. In der Fertigung werden die VR-Brillen den Produktionsprozess erleichtern, weil der Arbeiter oder die Arbeiterin das zu fertigende Produkt unterwegs anschauen kann oder weil bei der Wartung von Geräten in Echtzeit zusätzliche Daten zur Verfügung gestellt werden können, wie die Baupläne des Gerätes. Die Verbreitung von VR-Brillen wird auch maßgeblich davon abhängen, wie schnell sie schrumpfen werden – wer will schon dauerhaft ein Kilogramm Technologie auf dem Kopf haben – und wie schnell es gelingen wird, sie zuverlässig kabellos zu betreiben.

Nur radikal digitalisierte Unternehmen werden überleben

Eine weitere Technologie, die schon heute punktuell eingesetzt wird: Der 3D-Druck. In der Zahntechnik kommen schon heute die ersten Prothesen aus dem Drucker, genauso wie filigrane Bauteile in der Hörgeräteakustik. Größer geht es ebenfalls: Die bayerische Unipor-Gruppe arbeitet zusammen mit der Uni Darmstadt an einem Verfahren, Mauerziegel zu drucken, eine Vorstufe zum Drucken von Häusern und Gebäuden. Die Prototypen der gedruckten Ziegel werden ab 2019 auf Messen gezeigt. Momentan sind das noch Ausnahmen – in zehn Jahren aber nicht mehr. Da wird die 3D-Produktion in Industrie und Handwerk Standard sein. Und es wird auch dann schon die ersten 3D-Drucker in Privathäusern geben.

Solche 3D-Experimente sind mehr als eine Spielerei. Perspektivisch werden nur die Unternehmen überleben, die sich radikal digitalisieren. Schon bald werden wir in allen Bereichen, die Kundenservice sind, vor allem über Bots kommunizieren und Aufträge per Sprachsteuerung durch einen Assistenten platzieren. Wer dann nicht im Netz auffindbar ist, wird in der Unsichtbarkeit und damit in der Bedeutungslosigkeit versinken.

In den nicht-technischen Arbeitsbereichen kommen diese Umwälzungen etwas langsamer auf uns zu. Aber auch hier sind bereits die ersten VR-Brillen für bestimmte Arbeitskontexte im Einsatz. Im Verkauf zum Beispiel - in Autohäusern oder in Reisebüros – stoßen wir bereits auf sie. Je ausgereifter die Technik wird, umso selbstverständlicher wird das für uns werden, eine VR-Brille aufzusetzen und im Reisebüro virtuell durch das Hotel zu spazieren, das wir buchen wollen.

Das Ende des Feierabends

Wird die Arbeit der Zukunft also einfacher und reduzierter werden, weil wir maßgebliche Arbeitserleichterungen durch Technologie erfahren? Man mag sich kaum ausmalen, was es für Baugewerke bedeutet, wenn wir in Zukunft ein Einfamilienhaus in 24 Stunden „drucken“ können.

Oder wird die Arbeit anspruchsvoller und vor allem verdichteter sein? Work Life Blending – also die Tatsache, dass wir unsere Arbeit digital von allen Orten erledigen können und uns dadurch der Feierabend verloren geht – frisst die Erleichterungen durch Technologisierung und Automatisierung auf. Das gilt vor allem bei den Kopfarbeitern, wie mein Kollege Markus Albers in seinem Buch Digitale Erschöpfung schreibt. Wir müssen uns nicht mehr die Finger schmutzig machen, doch weil unsere Arbeit immer vernetzter und komplexer wird, ist sie zwar nicht mehr körperlich anstrengend, aber dafür mental immer präsent.

Wenn uns dieser Zustand nicht krank machen soll, werden wir lernen müssen damit umzugehen und Grenzen setzen. Das wird vor allem über Absprachen und Übereinkünfte gehen. Doch auch an technologischer Regulierung tüfteln wir bereits, wie etwa die Universität in Kassel, wo man derzeit an Software arbeitet, die selbständig erkennt, ob ein Anruf auf dem Smartphone durchgehen darf oder nicht.

Atypische Beschäftigungen werden die Regel sein

Auch die Unternehmen werden sich stark verändern – vor allem in ihrer Struktur. Je komplexer die Welt wird, in der sie sich bewegen und strategisch handeln müssen, umso mehr wird sich ihre innere Komplexität erhöhen, umso mehr werden sie selbst Netzwerkstrukturen entwickeln. Mitarbeiter werden zunehmend in wechselnden Teams projektbasiert zusammenarbeiten und Hierarchien sich zugunsten dieser Netzwerkstrukturen abflachen.

Was wir vor allem auch sehen werden: Dass Arbeit flexibler wird. Teilzeit und befristete Beschäftigung werden weiter zunehmen. Weil durch Roboter sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten übernommen werden und Beschäftigungsverhältnisse in ihrer Dauer kürzer werden, können wir über die Zukunft unserer Arbeit nicht sprechen, ohne nicht auch die Frage zu streifen, wie wir das finanzieren werden und wie wir soziale Absicherung gestalten werden. In einer Dekade wird die Verweildauer in den Unternehmen auf eine Handvoll Jahre zusammengeschmolzen sein, die Menschen werden häufiger die Arbeitgeber wechseln und auch viel häufiger als heute den Wohnort. Die Arbeitswelt der Zukunft wird uns wesentlich mehr Flexibilität und Mobilität abverlangen.

Daraus wird auch deutlich, welchen Stellenwert Lernen in der Arbeitswelt der Zukunft einnehmen wird: Wir werden konstant lernen müssen, uns permanent auf stetig sich wandelnde Umgebungen einstellen müssen. Ein großer Teil der aktuellen Grundschüler werden in zehn Jahren in Berufen tätig sein, die wir heute noch nicht kennen, die noch nicht erfunden sind. Lernen und Arbeiten wird eng verschränkt sein; nicht allein schon deshalb, um die eigene „Employability“ sichern zu können. Denn wer häufig den Arbeitgeber wechselt, wird sich schon während der Beschäftigung Gedanken darüber machen, wie wohl der nächste Schritt aussehen könnte. Überhaupt die Festanstellung: Was heute ein atypisches Beschäftigungsverhältnis ist, wie Befristung oder Teilzeit, wird normal sein.

Das bedingungslose Grundeinkommen ist nur eine Frage der Zeit

Weil in Deutschland soziale Sicherheit vor allem am Arbeitsstatus hängt, werden wir ihre Rahmenbedingungen neu definieren müssen. Deshalb hat auch die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) in den vergangenen Jahren so einen enormen Auftrieb erhalten. Und deshalb vermutet Richard David Precht auch, dass wir in nicht allzu ferner Zukunft Wahlkampf um die verschiedenen Modelle eines BGEs erleben werden. Er geht fest davon aus, dass es kommt, die Frage ist nur wie.

Solche Konstrukte haben dann auch direkte Auswirkungen auf die Art, wie wir arbeiten. Werden wir weniger arbeiten? Was machen wir mit der frei werdenden Zeit? Ganz sicher wird es mehr ehrenamtliches Engagement geben – aus zwei Gründen: Weil die Zeit dafür frei wird und weil auch der derzeitige Wertewandel weiter fortgeschritten sein wird. Schon heute sehen wir, dass es in der Arbeitswelt nicht mehr nur um Profit, sondern auch um Purpose geht. Je vernetzter wir denken und arbeiten, umso mehr beziehen wir in unser Handeln ein, was um uns herum geschieht – Nachhaltigkeit wird eine immer größere Rolle spielen, auch deshalb, weil die Schäden durch den Klimawandel schon in zehn Jahren ein gewaltiger Posten in unseren wirtschaftlichen Rechnungen sein werden.

Auch wird die Zukunft unserer Arbeit emotionaler und spiritueller werden, weil wir das wieder zulassen. In dem Moment, wo wir nicht mehr robotergleich in Fabriken eingesetzt werden, dürfen wir wieder Menschen sein. Blinder Konsum weicht schon heute zunehmend dem Wunsch nach Nachhaltigkeit, die allgegenwärtige Technologisierung unserer Welt erschafft Bedürfnisse nach Achtsamkeit und Minimalismus. Heute gilt schon: Je jünger umso offline – zumindest in der Freizeit, und auch das wird weiter zunehmen.

Co-Working-Space statt Einzelbüro

Ebenso werden Entwicklungen wie das Co-Working nicht mehr weggehen. Unsere Arbeit ist schon lange auf dem Weg aus dem Büro heraus – raus aus dem engen Büroraum mit den vertrockneten Zimmerpflanzen rein ins Home Office, rein in den Co-Working-Space, rein in den öffentlichen Raum. In ihrer Anfangszeit schufen sich gerade die großen Tech-Firmen wie Google oder Facebook exklusive Welten, die dazu angetan waren, ihre Angestellten ganz zu absorbieren – Kita, Reinigung, Fitnessstudio, alles war hier unter demselben Dach wie die Arbeit. Jetzt aber plant Amazon einen Campus in den USA, in den sogar die Öffentlichkeit Zugang haben soll. Das zeigt deutlich: Unternehmen werden an ihren Peripherien zunehmend durchlässig, ihre Netzwerkstrukturen wachsen über ihre eigenen Grenzen hinaus.

Doch welche Menschen werden auf diese Weise arbeiten? Eine der größten Sorgen der deutschen Wirtschaft ist der Fachkräftemangel. Bis zum Jahr 2030 werden drei Millionen Fachkräfte auf dem deutschen Markt fehlen, warnt das Forschungsinstitut Prognos. Ich bin mir nicht sicher, ob sich der Fachkräftemangel in den kommenden Jahren tatsächlich so verschärfen wird. Aus zwei Gründen: Einerseits bin ich der Meinung, dass der Mangel in Teilen hausgemacht ist – er ist ein Kommunikationsproblem zwischen Unternehmen und potenziellen Bewerbern. Sie finden sich einfach nicht, weil viele Unternehmen ihre Recruiting-Prozesse noch zu altmodisch gestalten und sie nicht als Kommunikationsakt auf Augenhöhe verstehen. Oder weil sie nicht genug anbieten – siehe Pflegebranche. Doch je mehr sich die Unternehmen in ihrem Innern wandeln, umso mehr werden ihre Botschaften auch nach außen strahlen, was das Recruiting vereinfachen könnte.

Rise of the Silver Worker

Andererseits denke ich, dass sich in den kommenden Jahren unsere Arbeitsmodelle weiter flexibilisieren werden, was dazu führt, dass auch andere Menschen vermehrt in Fachpositionen zum Zuge kommen – Frauen zum Beispiel. Unsere Arbeitswelt wird vielfältiger werden, was für mehr Auswahl sorgt. Ähnliches gilt für den demographischen Wandel: Ja, wir werden immer älter, in den kommenden Jahren werden viele Menschen aus dem Berufsleben ausscheiden. Gleichzeitig schieben wir die Rente auch immer weiter nach hinten und immer mehr Menschen arbeiten über das Rentenalter hinaus, die sogenannten Silver Worker. Eine Beispielzahl dazu: Schon heute gibt es 75.000 Personen im Business-Netzwerk Xing, die 75 Jahre alt sind und trotzdem noch erwerbstätig – Tendenz steigend. Nicht alle machen das freiwillig, doch gerade Akademiker durchaus.

Unsere Arbeitswelt in 10 Jahren wird flexibler und schnelllebiger sein. Sie wird herausfordernd und verdichtet sein und wir werden uns mit immer komplexerer Technologie auseinandersetzen müssen. Doch gleichzeitig wird es vielleicht auch eine Arbeitswelt, die dem Individuum mehr Gestaltungsmöglichkeiten bietet, je nach Wunsch oder Lebensphase. Mir hat kürzlich ein Gesprächspartner gesagt: „Wir werden nie wieder eine Zeit erleben, in der die Veränderungen so langsam vor sich gehen wir heute.“ Wenn wir tatsächlich davon ausgehen, dass die beschriebenen Entwicklungen exponentiell verlaufen, dann stehen wir gerade am Beginn einer Kambrischen Explosion von Technik und Möglichkeiten. Eine nie dagewesene Vielfalt und Komplexität kommt auf uns zu – das ist Chance und Risiko zugleich.

Werde ich mit diesen Vermutungen über unsere Arbeitswelt in zehn Jahren noch Recht behalten? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Dazu möchte ich in Anlehnung an Wittgenstein sagen: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man spekulieren.“ Und am besten unverzagt daran mitgestalten.

Alle Artikel des WIRED2029-Specials, die vom 12. bis 19.12.2018 erscheinen werden, findet ihr hier.

Inga Höltmann

Inga Höltmann

von GQ

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